Die Leselustige Ati's Rezi-Seite – Buchbesprechungen, Ankündigungen, etc.

17. Dezember 2012

Safier, David: Muh!

Filed under: Belletristik,Jugendbuch,Roman — Ati @ 16:15

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Kindler Verlag
ISBN-13: 9783463406039
ISBN-10: 3463406039
Belletristik
4. Auflage 09/2012
Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 336 Seiten
[D] 16,95 €

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Der zur Rowohltgruppe gehörende Kindler Verlag bietet seiner Leserschaft ein breites Spektrum. So findet man im Verlagsprogramm sowohl Literarisches wie auch Humoristisches, spannend oder charmant Erzähltes. Auch fantastische Zeitreisen bleiben nicht außen vor. Mit Muh! nimmt David Safier seine Leserschaft ebenfalls auf eine Reise mit. Allerdings handelt es sich dabei um keine Zeitreise. <!–mehr–>

Der 1966 in Bremen geborene Journalist war zunächst beim Hörfunk und Fernsehen tätig, bevor er ab 1996 erste Arbeiten als Drehbuchautor und Schriftsteller ablieferte. So arbeitete er unter anderem als Hauptautor an Berlin, Berlin mit, wofür er den Adolf-Grimme-Preis erhielt. Sein Buch zur Serie Mein Leben & Ich bescherte ihm den Goldenen Spatz (MDR-Kinder-Film- und Fernsehpreis). In Anlehnung an seinen 2007 erschienen Debütroman Mieses Karma gründete er eine Stiftung. Wer eventuell sein eigenes Karma verbessern und Kindern etwas Gutes tun möchte, sollte sich vielleicht auf der Stiftungsseite www.gutes-karma-stiftung.de umsehen. Dass Safier mit seinem Debütroman kein Onehit-Wonder-Autor geblieben ist, bewies er mit den ebenfalls in Millionen-Auflage verkauften Folgeromanen Plötzlich Shakespeare, Happy Family und dem demnächst ins Kino kommenden Jesus liebt dich. Auch im Ausland finden seine Bücher Anklang.

Doch zurück zu Muh!. Dem voll kuhlen Buch, das gerade vor mir liegt. Mein erster Safier-Roman, dessen Schutzumschlag mich bereits beim ersten Draufschauen trotz eigentlich gar nicht vorhandener Ähnlichkeit an eine bestimmte Sorte Karamellbonbons erinnerte und prompt Appetit auf die Dinger machte. Gut, dass ich keine im Haus hatte. Erstens wäre der Verzehr derselben meinen Hüften nicht gut bekommen und zweitens hätte ich mich womöglich während diverser Schmunzel- und Lachattacken, die mich beim Lesen überkamen, verschluckt.

Für die, die noch nie von Muh! gehört haben: Im Buch geht es um die ostfriesische Kuh Lolle. Etwas zu rund ist sie eigentlich ganz zufrieden mit ihrem Dasein und vor allem tierisch in Champion verliebt, der auf dem gleichen Hof wie sie lebt. Doch dann stürzt Lolles heile, kleine Welt ein. Sie erfährt, dass Champion es mit der Treue nicht allzu ernst nimmt und fast zeitgleich, dass der stets angesäuselte bis betrunkene Bauer alle Kühe schlachten lassen will. Dass sie an diesem Tag den Kater Giacomo vor einem fiesen Höllenhund rettet, erweist sich zumindest als Glücksfall. Denn besagter Kater kennt ein paradiesisches Land, in dem Kühe heilig sind. Obwohl sie bisher davon ausgegangen ist, dass es hinter den Bäumen hinter der Weide nur noch die unendliche Milch der Verdammnis gibt, beschließt Lolle zu fliehen. Schließlich möchte sie nicht zwischen zwei Brötchenhälften enden. Da sie nicht alle ihre Artgenossen zum Mitkommen überreden kann, macht sie sich mit ihrer kleinen Flüchtlingsherde in die große weite Welt auf.

Wer jetzt erfahren möchte, wie fatal das Zusammentreffen von Glühwürmchen und Methan produzierenden Kühen enden kann, was für medizinische Alternativen alte an jüngere Kühe weitergeben, was das Ziehen in Lolles Bauch mit Champion zu tun hat, wie Lolle über die Schöpfungsgeschichte der schöpferischen Gotteskuh Naia und ihre Folgen denkt, oder was Lolle samt ihrer kleinen Herde, dem nicht ganz so ohne Hintergrundgedanken agierenden Giacomo oder dem Höllenhund so alles erlebt, der sollte sich Safiers Buch zu Gemüte führen.

Gleich vorab: Safier hat damit nicht nur ein positives Echo hervorgerufen. Zu bemüht, zu schräg, zu platt, zu unglaubwürdig, schlechter als die Vorgängerromane – all das war in diversen Beurteilungen zu lesen. Ich kann zustimmen, dass Safiers Humor gelinde gesagt schräg ist. Hochgeistige Lektüre sieht ebenfalls anders aus und mir kam auch nicht alles logisch vor. Da ich jedoch nach einem Blick in die Inhaltsangabe und auf das Cover so etwas auch gar nicht erwartet habe, kann ich mich getrost den positiven Stimmen anschließen (die es übrigens weitaus zahlreicher gibt).

Mit skurrilem, tatsächlich irgendwie bekannt vorkommendem Witz stellt Safier seine Hauptcharaktere vor. Trottelig doof und trotzdem liebenswert sind die einen, schnippisch, bissig, zickig und dennoch nicht vollkommen unsympathisch die anderen. Gebildet oder eher naiv dumm, angeberisch, intrigant, untreu, verzweifelt, wagemutig, verliebt, verbittert, unternehmungslustig, ängstlich. Stark vermenschlicht kommen sie alle herüber, doch das stößt nicht ab. Die eine oder andere Szene wirkt allerdings nicht nur durch die Vermenschlichung extrem an den Haaren herbeigezogen und etwas zu kurios überspannt. Was auf der einen Seite niedlich und nett amüsant wirkt, lässt auf der anderen Seite (hoffentlich mehr als eine(n) LeserIn) ein wenig die eigenen Ernährungsgewohnheiten und die Ignoranz der damit allgemein verbundenen Bedingungen der Tierhaltung überdenken. Dieser Aspekt ist allerdings so spielerisch leicht mit der Geschichte verwoben, dass man hier nicht von einem erhobenen Zeigefinger sprechen kann oder muss. Unabhängig davon handelt Lolles Reise von der Suche nach dem Glück, das für jeden ein wenig anders gewandet daherkommt. Davon, dass manche Träume ein wenig zurechtgestutzt oder leicht abgewandelt werden müssen, wenn man wirklich glücklich sein möchte. Und vom Verstehen, dass jeder das ist, was Erlebtes aus ihm macht. Von Freundschaft und Verantwortung.

Nicht zwingend tiefsinnig, aber auch nicht vollkommen oberflächlich lässt Safier seine Hauptkuh Lolle die Geschichte erzählen. Locker und leicht lesbar erfährt man von ihren teils klamaukartigen Erlebnissen und Gedanken. In der hypothetischen Reise seiner Kühe findet sich humoriger Lesespaß. Vielleicht gerade weil Safier Rinder, Kater und Hund so menschlich dargestellt, wirkt aber auch die Entwicklung ihrer Charaktere oder die latent enthaltene Botschaft in Muh! überraschend plausibel.

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Allen Menschen recht getan, ist ja bekanntlich eine Kunst, die keiner kann. Deshalb gehe ich davon aus, dass Safiers Muh! nicht alle anspricht. Mit seinem schrägem Wortwitz zeigt Safier darin durchaus ein Talent für spaßige Situationen. Allerdings fehlt manchmal ein wenig Tiefe. Anfangs helfen noch Dialoge und Sticheleien der Herde untereinander gut darüber hinweg. Im Lauf der Geschichte verliert sich der Witz jedoch etwas, auch durch Wiederholungen von Lolles Gedankengängen, was im Mittelteil für die eine oder andere Länge sorgt. Trotz kleinerer Schwächen hält man mit dem Buch jedoch eine amüsante und (größtenteils) kurzweilige Lektüre in Händen, für die ich vier von fünf Punkten vergeben möchte.

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

4. Dezember 2012

50 Cent: playground

Filed under: Jugendbuch,Roman — Ati @ 15:46

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Originaltitel playground
aus dem Amerikanischen übersetzt von Rainer Schmidt
rowohlt POLARIS
ISBN13: 9783862520329
ISBN10: 3862520323
Belletristik
1. Auflage 12/2012
Taschenbuch, 192 Seiten
[D] 13,95 €


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Es gibt eigentlich so gut wie nichts, was ich lesetechnisch nicht zumindest einmal ausprobiere. In diesem Zusammenhang landete der Roman des US-amerikanischen Gangsta-Rappers 50 Cent auf meinem SuB. Dort lag er allerdings nicht lange, denn meine Nichte fragte mich, wie ich das Buch finde. Und eine entsprechende Antwort konnte ich ihr schließlich erst nach der Lektüre geben.

Was erwartet einen in einem Buch, in dem jede Menge 50 Cent in der Hauptfigur stecken soll? Immerhin ist besagter Gangsta-Rapper nicht unbedingt strafunauffällig geblieben und sein Leben war alles andere als unbewegt. Curtis Jackson III, alias 50 Cent, wurde 1975 in Queens geboren. Seinen Vater kennt er nicht, seine Mutter, eine Crackdealerin, wurde ermordet, als er gerade acht war. Fortan lebte er bei seinen Großeltern. Mit zwölf handelte er selbst mit Drogen und verbüßte bis zu seinem 18. Geburtstag bereits mehrere Haftstrafen. Von Jam Master Jay entdeckt, von seinem Label und bald darauf von Columbia Records unter Vertrag genommen, endete im Mai 2000 50 Cents Karriere wieder, bevor dort sein Debütalbum herausgegeben wurde. Jackson war kurz zuvor zunächst niedergestochen und später angeschossen worden und Columbia fürchtete Negativschlagzeilen. Er kehrte in die Welt der Drogen zurück und bekam eine zweite Chance, als Eminem ihn 2002 unter Vertrag nahm. Neben seinen Drogendelikten wurde 50 Cent auch wegen Körperverletzung angeklagt und erhielt 2005 bei seiner Verurteilung zwei Jahre auf Bewährung und die Auflage, sich regelmäßig Antiaggressionstraining und Drogentests zu unterziehen. Das ist die eine Seite. Darüber hinaus ist 50 Cent jedoch für seine Alben und Singles mehrmals ausgezeichnet worden. Mit dem American Music Award, Platin und Gold, dem Bravo Otto, dem Echo, Brit Awards oder auch dem Grammy. Auch die Filme, in/an denen er mitwirkte, etwa der über sein Leben (Get rich oder die tryin‘), wurden kontrovers diskutiert. Vor allem der gerade genannte, in dem genau wie in vielen seiner Lieder Waffengebrauch und damit Gewalt verherrlicht wird. playground ist übrigens nicht das erste Buch, an dem er beteiligt ist. 2005 erschien bei Hannibal Dealer, Rapper, Millionär von 50 Cent und Kris Ex. Und auch ansonsten vermarktet der 37Jährige sich selbst geschickt. Sei es mit Klingeltönen oder Bekleidung, Computerspielen, Heftromanen oder Getränken. 2006 soll er laut Forbes Magazine 32 Millionen Dollar verdient haben.

Alleine nach dem Blick auf seine Biografie war ich geneigt, meiner Nichte zu sagen: Finger weg. Anderseits soll laut Verlagsseite beispielsweise Bette Midler gesagt haben: „Ich verneige mich vor 50 Cent, weil er dieses Buch geschrieben hat.“ Die ist ja nun nicht gerade für Gangsta-Rap und Hardcore-Filme bekannt. Und außerdem verlegt rowohlt POLARIS das Buch. Der 2010 gegründete Verlag will mit jedem seiner Titel Besonderes bieten. Jährlich sollen beispielsweise 12 Titel im Bereich Belletristik herauskommen. playground ist dieses Jahr einer dieser Titel. Es sollen Spannung, Fantasy und Humor dominieren, wie man auf der Homepage sehen kann. Das alles in niveauvoller Form für alle zwischen 16 und 66.

Ich ging anhand der Inhaltsangabe davon aus, dass Fantasy und Humor in playground sicher nicht dominieren würden, womit nur die Spannung blieb. Und die beschränkte sich bei mir anfangs ganz profan auf Dinge wie etwa die Sprache. Gettoslang? Auf so jugendlich getrimmt, dass ältere LeserInnen vielleicht Verständnisprobleme damit haben? Ergeht sich der Roman in einer ausführlichen Beschreibung des Drogenmilieus? Verherrlicht er Waffen? Strotzt er vor Gewaltexzessen? Die Titel der 50 Cent Alben/Singles (etwa The Massacre oder Before I self destruct) stimmten mich diesbezüglich nicht sehr hoffnungsfroh.

Liegt es daran, dass zum Schreiben des Buches Laura Moser herangezogen wurde, die vermutlich nach Gesprächen mit dem Rapper die Finger auf die Tastatur niederprasseln ließ. Sie steht zumindest unter 50 Cent auf dem Titelblatt innen und wird auch etwa bei Amazon als Autorin genannt. Oder daran, dass 50 Cent heute anders denkt als vor einigen Jahren. Jedenfalls wurde keine meiner negativen Befürchtungen bestätigt. Und gleich vorab: Die Altersgruppe stimmt. Mir bleiben zwar noch einige Jahre, bis ich 66 bin, doch bin ich schon wesentlich länger keine 16 mehr. Die Sprache ist verständlich und klar und für die gesamte anvisierte Altersgruppe geeignet. Ob dies an der Übersetzung liegt, weiß ich nicht, da ich das Original nicht gelesen habe. Auf alle Fälle tauchte ich gleich anfangs in die dicht gesponnene, authentische Atmosphäre der Geschichte ein. Ich litt mit den Figuren. Ich ärgerte mich mit ihnen und über sie. Ich entwickelte Verständnis für sie.

Sie könnten übrigens auch gleich nebenan wohnen. Die Geschichte spielt zwar in einem Vorort von New York City in der jüngeren Vergangenheit. Doch beides könnte ohne Probleme getauscht werden.

Obwohl verfickt, Scheiße und ähnliche Worte verwendet werden, gibt es keine Fäkalsprache im eigentlichen Sinn, die gerade angesprochenen Formulierungen tauchen nur relativ begrenzt auf. Obwohl Gewalt vorkommt, wird sie nicht verherrlicht. Schusswaffen beispielweise finden, genau wie Messer oder Schlagringe keinen Platz in der Geschichte. Von Jugendgangs ist nicht wirklich die Rede und auch Drogen werden nur in einem einzigen Satz erwähnt. Einbrüche? Nein. Diebstahl? Ja, man liest davon, aber auch Stehlen bestimmt nicht den Alltag der Hauptfigur.

Stattdessen nimmt man mehr oder weniger teil an einem Dasein in einer relativ harmlosen Vorortgemeinschaft. Ich habe jetzt bewusst das Wort Dasein gewählt, denn himmelblau und wunderschön ist das Leben dort jedoch bei Weitem nicht automatisch. Trostlos trifft es für einige viel eher. Und die Schule ist ein Ort, der Angst machen kann. Nicht weil dort pausenlos Gewaltexzesse beschrieben werden. Selbst Taschengeldabzocke bekommt man nur ganz am Rand mit. Angst macht eher die Denkweise mancher Schüler, die Unterdrückung und Ausgrenzung, das Wegsehen und Tolerieren. Falscher verstandener Respekt und absolute Respektlosigkeit angesichts nicht vorhandener oder extrem verschobener Wertvorstellungen. All das gibt es nicht erst seit wenigen Jahren und nur in den Staaten. Doch über die Jahre hat sich dieses Verhalten stark verschärft und in dieser verschärften Form auch an vielen unserer Schulen Einzug gehalten. Ich kenne mehr als ein Kind, das Angst hat, in die Schule zu gehen. Nicht wegen schlechter Noten oder den Lehrern sondern einzig wegen anderer Schüler. Das Kind einer Bekannten war so unter Druck, dass es sich erst nach einem Selbstmordversuch seinen Eltern anvertraute. Die Hauptfigur aus playground steht jedenfalls am Scheideweg. Geht es für sie einfach trostlos weiter oder verpfuscht sie sich ihr Leben?

Diese Hauptfigur heißt Burton. Den Namen erfährt man erst relativ spät, immerhin ist der 13Jährige allen eher als Butterball, B-Ball, oder auch alte Speckschwarte und Fettschwabbel bekannt. Nach der Trennung seiner Eltern zog er mit seiner Mutter in einen Vorort, musste eine neue Schule besuchen. Sowohl die Trennung als auch der Neuanfang machen Butterball zu schaffen, ist er doch meist sich selbst überlassen. Er nimmt zu, ist übergewichtig, was nicht gerade zu seiner Beliebtheit beiträgt. Alte Freundschaften scheinen nicht zu existieren. Neue sind auch nach zwei Jahren spärlich gesät. Genauer gesagt gibt es da nur Maurice. Doch die beiden verbindet als Außenseiter eher eine Zweckgemeinschaft. Und dann ist da noch Nia, die freundlich zu Butterball ist. Obwohl sein Vater selten Zeit für ihn hat, bedeutet er dem Jungen viel. Und obwohl auch seine Mutter angesichts ihrer Ausbildung und Arbeit so gut wie nichts mit ihm unternehmen kann, fühlt er sich nach außen nur bedingt allein und ist froh, wenn man ihn in Ruhe lässt.

Eines Tages passiert etwas, was alles durcheinanderwirbelt. Damit startet der Roman im Grunde genommen. Weil Butterball denkt, dass Maurice Lügen über ihn verbreitet, will er ihm das Maul stopfen und verprügelt ihn brutal. Die Wirkung dieser Aktion ist fatal und so realistisch dargestellt, dass sie erschüttert. Sein Vater hält ihm mehr oder weniger eine Standpauke. Nicht für das, was er getan hat, sondern dafür, dass er sich hat erwischen lassen. Nia hat Angst vor ihm und blickt gleichzeitig zu ihm auf. Seine Mutter steckt ihn in Zusammenarbeit mit der Schulleitung in eine Gesprächstherapie, damit er nicht von der Schule fliegt. Und ansonsten kennen ihn plötzlich Leute, die ihn vorher bestenfalls nicht beachtet oder verhöhnt haben. Klopfen ihm anerkennend auf die Schulter. Diese Anerkennung will er sich nicht gleich wieder verscherzen und tut deshalb Dinge, hinter denen er nicht wirklich steht.

Auf die Gesprächstherapie hat er absolut keine Lust, sieht aber ein, dass sie nötig ist, um nicht von der Schule verwiesen zu werden. Also geht er widerwillig hin. Und was anfangs unmöglich scheint, vollzieht sich in aller Stille. Er beginnt sich seiner Therapeutin, für die er zunächst allenfalls so etwas wie wohlwollende Verachtung übrig hat, zu öffnen.

50 Cent und Laura Moser lassen Butterball seine Geschichte selbst erzählen. Dies geschieht zum Teil so, dass er LeserInnen an den Sitzungen bei seiner Therapeutin Liz teilnehmen lässt, dann wieder rückblickend den Fokus darauf lenkt, was letztlich überhaupt zu diesen Sitzungen geführt hat. Und zwar in einem Stil, der berührt, nachdenklich macht und wie bereits erwähnt auch erschüttert.

In 34 Kapiteln lernen LeserInnen nach und nach keinen tollwütigen Schläger kennen. Vielmehr offenbart sich ein einsamer Junge, der neben seiner Wut auch seine Ängste unterdrückt, seine Hoffnungen eigentlich schon aufgibt, bevor er sie sich zu sehr ausmalt. Der nicht viel über Gefühle redet, weil er das von zuhause nicht gewohnt ist. Der sich verzweifelt nach Anerkennung sehnt. Erfährt von seinen Träumen und Wünschen. Lernt ihn schlagfertig und sarkastisch kennen. Teils verbittert, teils selbsteinsichtig. Und fatalistisch, denn im Grunde geht er davon aus, ja doch keine Chance zu haben. Butterball fühlt sich wertlos, denkt bestimmte Dinge verdient zu haben. Angesichts des Umgangstones oder auch des Erziehungsstils seines Vaters scheint dies kaum verwunderlich. Die Werte, die ihm seine Mutter vermitteln will, sieht er größtenteils nicht. Obwohl er nicht gänzlich respektlos ist, fehlt es ihm an Respekt. Trotzdem kann der Junge durchaus zwischen Recht und Unrecht entscheiden und beginnt nachzudenken. Wie 50 Cent hat auch Butterball eine kreative Ader, wenngleich er diese nicht durch Musik ausdrückt. Findet er damit einen Ausweg aus seiner Situation?

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Wer in playground so etwas wie eine reine Milieustudie von 50 Cents Jugend und Drogenzeit oder Ähnliches, reißerisch von einem Ghostwriter aufgemotzt, erwartet, sollte die Finger von dem Buch lassen. Curtis Jackson III, alias 50 Cent, weiß durchaus, wie man zum Schläger wird, und hat Erinnerungen aus seiner Jugend (aller Wahrscheinlichkeit nach extrem abgemildert, jedoch nicht geschönt) in die Geschichte einfließen lassen. In der Einleitung meldet sich er selbst zu Wort und erinnert seine Leser an etwas, was er in seinem von Höhen und vielen Tiefen geprägten Leben gelernt hat. Zitat: „Ein Schläger zu sein bringt dich nirgendwohin.“ Nicht jeder hat so viel Glück wie der Gangsta-Rapper und Multimillionär, der mehr als eine Chance erhalten hat. Doch nicht jeder muss vollkommen abstürzen. Wer wissen will, ob es Butterball gelingt nicht nur seinen unsäglichen (auf seine Figur bezogenen) Namen, sondern auch seine Situation zu ändern, sollte dieses Buch lesen. Es gibt immer zwei Seiten im Leben. Die Entscheidung, welche Richtung man einschlägt, trifft man selbst.

Der Roman hat mich mehr als angenehm überrascht und ich kann ihn nicht nur meiner Nichte beruhigt empfehlen. Er ist spannend, trotzdem unaufgeregt leise. Wirkt lebensnah echt, macht nachdenklich und erinnert daran, welchen Einfluss unser Handeln (oder Nichthandeln) auf das Leben anderer hat. Auf einer Punkteskala von eins bis fünf möchte ich playground die volle Punktzahl geben.

Copyright © 2012 by Antje Jürgens (AJ)

2. Dezember 2012

Schophaus, Michael: Im Himmel warten Bäume auf dich

Filed under: Erfahrungen/Biografien,Tod/Trauer — Ati @ 18:40

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Goldmann
ISBN-13: 9783442151486
ISBN-10: 3442151481
Biografien, Erinnerungen
Vollständige Taschenbuchausgabe 03/2002
Taschenbuch, 184 Seiten
[D] 8,00 €

Anlässlich des kürzlich besprochenen Buches Mama, ich hab Krebs fiel mir wieder ein Buch ein, das seit einigen Jahren in meinem Besitz ist. Auch darin geht es um den viel zu frühen Tod eines Kindes, auch dieses ist von einem Elternteil geschrieben, das versucht mit dem schmerzhaften Verlust fertig zu werden. Das ist jedoch die einzige Gemeinsamkeit, die diese beiden so ungleichen Bücher haben.

Es gibt Bücher, die vergisst man nicht. Das von Schophaus gehört für mich dazu. Es handelt von Tod und Verlust, von Trauer. So eindringlich, dass man sich beim Lesen und auch noch danach fast an dem kleinen Bettchen sitzen sieht und den Jungen darauf festhalten möchte. Jedes Mal, wenn ich es zur Hand nehme, berührt es mich unendlich. Abgesehen davon verbinde ich für mich damit eine persönliche Geschichte.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der pendelte ich arbeitsbedingt zwischen Stuttgart und Berlin. Da meine Maschine eines Abends (nicht zum ersten oder letzten Mal) überbucht war, wartete ich auf meinen Ersatzflug und investierte den Betrag, den mir die Fluggesellschaft als Ausgleich für den späteren Flug anbot, schon vor Erhalt teilweise in neue Lektüre. Beim Stöbern fiel mir Im Himmel warten Bäume auf dich aus irgendeinem Grund direkt aus dem Regal entgegen. Die kleine Narbe des Schnitts, den ich mir beim Fangen zuzog, sieht man heute noch. Obwohl bereits angesichts des Titelbildes auch ohne Beachtung des Untertitels Die Geschichte eines viel zu kurzen Lebens klar war, dass ich damit nicht wie vorgesehen etwas Lustig-entspannendes erwarb, nahm ich das Buch kurzerhand mit. Obwohl man ihm die Krankheit ansieht, wirkten das Gesicht und die Augen des kleinen Jungen, der kahlköpfig an Schläuchen hängend, auf seinem Bettchen sitzt, ein Eis in der kleinen Hand haltend, zu spitzbübisch, um das Buch einfach wieder ins Regal zu stellen.  

Trotz einiger tatsächlich ebenfalls gekaufter leichter und/oder amüsanter Romane, begann ich es zu lesen, während ich darauf wartete, an Bord meiner Maschine gehen zu dürfen. Neben mir saß ein Mann. Ihm war offenbar langweilig, denn er fragte mich, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn er mitlas. Machte es natürlich nicht. Und da wir im Flugzeug zufälligerweise direkt nebeneinander platziert waren, konnte er auch dort mitlesen. Wir beide schafften es damals nicht, unsere Tränen zurückzuhalten, drohten in einem Wechselbad an Gefühlen zu ertrinken. Das gemeinsam begonnene Buch war der erste Schritt in eine wunderbare Freundschaft. Sie verbindet uns heute, 10 Jahre später, und mittlerweile 1.630 km voneinander getrennt, noch immer.

Was Rainer an diesem Donnerstagabend noch nicht einmal ahnen konnte war, dass bei seiner eigenen Tochter nur fünf Wochen später ebenfalls eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wurde. Rainer hat mir einmal gesagt, dass unsere Freundschaft ihm in der Zeit vor Svenjas Tod und auch danach viel Kraft gegeben hat. Insoweit bin ich unendlich dankbar, dass mir dieses Buch damals einfach so, aus unerfindlichen Gründen entgegen fiel. Auch, weil die nochmalige Lektüre gerade dieses Buches Rainer in der Zeit nach der kleinen Svenja Kraft gab. Kein Wunder, dass auch manche Bestatter es als Trauerliteratur empfehlen. Bedauerlicherweise ist es im Buchhandel seit längerem vergriffen.

Trotz der schrecklichen Krankheit und seinem frühen Tod, den er als Blödmann bezeichnete, wirkt Jakob durch die niedergeschriebenen Erinnerungen von Michael Schophaus lebendig, kindlich kraftvoll. Und obwohl früh klar ist, das Jakob keine Chance auf eine Zukunft hat, ging seine Kraft doch viel zu plötzlich zu Ende. Jakob liebte Bäume, in allen Größen und Formen. Als er ging, blickte er auf einen Weihnachtsbaum und draußen tobte der Sturm.

Obwohl ihn Krankheit und Behandlung aufzehren, animieren diverse Passagen im Buch zum Lächeln. Zwei Jahre durfte Jakob leben, bevor die Diagnose Neuroblastom kam. Danach blieben noch 600 Tage bis zu seinem Tod. 600 Tage an denen Schophaus seinen Sohn begleitete und unterstützte so gut es ging. 600 Tage, die ihn einen Blick in die Hölle werfen ließen. Eine Hölle in der – so Schophaus – kleine, mutige Kinder mit Glatze sitzen und kotzen. Denen er von Herzen den Himmel wünscht, weil sie ihn verdient haben. Wer einmal eine onkologische Kinderstation besucht hat, stimmt ihm da sicherlich ohne zögern zu.

Tagebuchartig lässt Schophaus LeserInnen an dieser Zeit teilnehmen. An den Hoffnungen, die entstehen, wenn Jakob kurzzeitig nach Hause darf. An der Verzweiflung, wenn die Haare ausgehen, neue Tumore auftauchen. Ebenso an dem unerträglichen Krankenhausbetrieb, den Schmerzen, den Behandlungen. Er verbirgt seine Hilflosigkeit, Trauer und Wut nicht, erinnert aber auch an Momente des Glücks. Er lässt LeserInnen seinen Sohn unmittelbar kennenlernen, auch wenn der kleine Jakob physisch nicht mehr unter uns weilt. Dieser bezaubernde kleine tapfere Junge, der sein Leiden in all seiner Kindlichkeit ertragen muss. Der Fragen stellt, Antworten gibt. Der nie die wirkliche Chance hatte, wie andere Kinder Kind zu sein, erwachsen zu werden.

Auch wenn die Familie versucht, so normal wie möglich zu leben, wird doch deutlich, wie viel Kraft Jakobs Leidensweg sie kostet. Dabei wird Schophaus in seinen Erinnerungen nicht melodramatisch. Trotz Wut und Ohnmacht wirkt er nicht verbittert. Dennoch schildert er auch sehr deutlich, wie er sein Umfeld in der Zeit damals erlebte. Krankenhauspersonal, Arbeitskollegen, Freunde. Nicht immer sind die Erfahrungen mit ihnen positiv, was das Empfinden von Jakobs Erkrankung noch schlimmer macht.  

Der 1956 in Bottrop geborene Journalist und Autor Michael Schophaus lebt heute mit seiner Frau und zwei Kindern abwechselnd in Hamburg und bei Köln. Er verfasste unter anderem das Buch Zu jung, um alt zu sein. Die Geschichte einer rätselhaften Krankheit, mit dem Goldmann (laut Wikipedia) im Jahr 2004 das erste Buch weltweit zum Thema Progerie (Vorzeitige Vergreisung im Kindesalter) auf den Markt brachte.

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Im Himmel warten Bäume auf dich ist die reale Geschichte des kleinen Jakob und seinem aussichtslosen Kampf gegen eine unheilbare Krankheit. Eine Geschichte, die an die Nieren geht. Nicht nur, weil Jakob viel zu jung gehen musste. Auch weil Schophaus seine Hilflosigkeit, Wut und  Trauer, aber auch gute Erinnerungen ergreifend umgesetzt hat. Trauer kann man nicht werten – dieses Buch jedoch schon. Es verdient mehr als fünf Punkte und Jakob einen Himmel voller Bäume.

Copyright ©, 2012 Antje Jürgens (AJ)

 

 

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