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4. Mai 2013

JUNG, SUSANNE: BESSER LEBEN MIT DEM TOD

1012_01_SU_Jung_LebenMitTod.inddVerlag: Klett-Cotta
ISBN-13: 9783608947458
ISBN-10: 3608947450
Genre: Sachbuch, Erfahrungen
Ausgabe: 1. Auflage 03/2013
Hardcover mit Schutzumschlag, 226 Seiten
Neupreis [D] 19,95 €

Verlagsseite

 

Obwohl er unabdingbar zum Leben dazugehört, befassen sich die Wenigsten von uns ernsthaft mit dem Tod. Er wird tabuisiert und verdrängt, obwohl er uns ohne Ausnahme bevorsteht. Vermutlich einer der Gründe, warum er die Hinterbliebenen immer wieder besonders schmerzhaft trifft und so manchen aus der Bahn wirft.

Susanne Jung © Marijan Mura

Susanne Jung
© Marijan Murat

Susanne Jung schreibt über den Tod und das Thema Abschied nehmen. Der Schutzumschlag des Buches ist schlicht gehalten. Er zeigt ein weißes Kissen auf weißem Grund, eine einzelne rote Rose. Friedlich und liebevoll wirkt dieses bescheidene Motiv und steht damit eigentlich im krassen Kontrast zum Thema an sich. Immerhin wird durch den Tod eine Person aus unserem Leben gerissen; für so manchen bricht dadurch eine Welt zusammen. Andere sind erleichtert, weil eventuell ein langer Leidensweg beendet wurde. Doch egal ob so oder so, ohne einen adäquaten Abschied fällt die eigentliche Trauerarbeit schwer. Ohne Akzeptanz ist sie unmöglich.

Ebenso schlicht wie das Umschlagmotiv ist der Schreibstil der Autorin. Das allerdings nur im Sinne von sehr gut nachvollziehbar, denn tatsächlich vermittelt Susanne Jung den Inhalt ihres Buches auf niveauvolle Art. Sie gestaltet ihn sehr praxisbezogen. Nicht unbedingt philosophisch-anspruchsvoll, dafür aber ebenso anrührend wie achtungsvoll, verständnisvoll wie kritisch. Denn die Autorin weiß, wovon sie schreibt. Nicht nur, weil sie selbst mehr als einen schmerzhaften Verlust erlitt. Auch weil sie einen Beruf ausübt, der nicht ganz gewöhnlich ist. Ursprünglich lernte sie, wie man Bilderrahmen vergoldet. Über eine ehrenamtliche Sterbebegleitung kam sie im Laufe der Jahre jedoch in ein Bestattungsinstitut. Was sie dort erlebte, war nicht das, was sie sich unter einem würdigen Abschied vorstellte. Und so machte sie sich einige Jahre danach als Bestatterin selbstständig.

Von ihren eigenen Erfahrungen mit den Themen Sterben und Abschied, über ihren Umgang damit, erfahren LeserInnen eingangs des Buches. Offen erzählt Jung von Erlebnissen und Verlusten, jahrelanger Verdrängung und Trauerbewältigung. Nach ihren Ausführungen dazu, wie sie Bestatterin wurde, widmet sie sich dann Todesfällen, die andere erlebt haben. Sie schreibt vom Abschied von einem Kind, das nie leben durfte. Von einem Jugendlichen, der sich das Leben nahm. Von einem Mann, der durch seinen letzten Willen seiner Witwe fast die Möglichkeit zum Abschiednehmen nahm. Von einem Witwer, der innerlich mit seiner Frau starb. Von einer Organspenderin. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Jungs Erfahrungsschatz, der mittlerweile über 800 Bestattungen umfasst, die aber natürlich nicht alle in dem Buch erwähnt werden. Was jedoch erwähnt wird, sind bürokratische Hürden, die es nicht nur im Rahmen individuell gestalteter Bestattungen zu nehmen gilt. Unaussprechliches, das ausgesprochen werden sollte. Gefühle, die zugelassen werden sollten. Und Jungs Wünsche für Veränderungen der hierzulande geläufigen Sterbe- und Bestattungskultur.

Einfühlsam geht sie auf den Unterschied zwischen Verstorbenen und Toten ein. Das mag für den einen oder anderen seltsam klingen. Dass es ihn tatsächlich gibt, weiß ich jedoch aus eigener Erfahrung und kann nur bejahen, was die Autorin dazu schreibt. Ihre Überlegungen, warum der Tod in den letzten Jahrzehnten dermaßen distanziert in Angriff genommen und zunehmend tabuisiert wurde, sind nachvollziehbar logisch. Jung hebt hervor, wie wichtig es ist, die Möglichkeit für einen bewussten Abschied anzubieten, unterstreicht aber auch die Bedeutsamkeit, diese Möglichkeiten als Betroffener zu nutzen. Ihre Anschauung des Lebens und (untrennbar damit verbunden) des Lebensendes vermittelt sie, trotz der Omnipräsenz des Todes, ebenso sensibel wie sachlich und durch alle kurzen Kapitel hindurch durchweg lebendig. Empathisch und unaufgeregt offenbart sich so Stück für Stück eine versöhnliche Fürsprache für ihn, mehr jedoch noch für das bewusste Leben.

Fazit: 05aPerlenpunkte

Besser leben mit dem Tod oder Wie ich lernte Abschied zu nehmen ist ein sehr persönliches Buch, das ich gerne weiterempfehle und für das ich die volle Punktzahl vergebe. Es wirkt tröstlich und informativ. Nicht nur für diejenigen, die gerade selbst einen Todesfall beklagen, sondern auch für jene, die sich mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen. Dass Susanne Jung tatsächlich mehr als eine konventionelle Bestatterin ist, durfte ich beim Abschied eines Freundes erleben. So sensibel, wie sie dabei die Hinterbliebenen begleitete und tröstete, so vermittelt sie in ihrem Buch tatsächlich, dass Abschied nehmen gelernt sein will und man besser lebt, wenn man den Tod nicht verdrängt – einfach weil er zu unserem Leben gehört.

 

Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)

16. Januar 2013

KLEIS, CONSTANZE: STERBEN SIE BLOSS NICHT IM SOMMER – und andere Wahrheiten, die Sie über Ihr Ende wissen sollten

Filed under: Erfahrungen/Biografien,Tod/Trauer — Ati @ 17:17

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Dumont Buchverlag
ISBN-13: 9783832196578
ISBN-10: 3832196579
Erfahrungen
1. Auflage 08/2012
Hardcover mit Schutzumschlag, 220 Seiten
[D] 19,99 €

Verlagsseite

Constanze Kleis ist – wie man dem Buchumschlag oder diversen Verlagsseiten entnehmen kann – Journalistin und Buchautorin. Zusammen mit Susanne Fröhlich verfasste sie mehrere Bestseller, war 2002 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Darüber hinaus arbeitet sie freiberuflich für Zeitschriften wie Cosmopolitan und Elle aber auch für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.

Normalerweise schreibt Kleis in ihren Büchern auf spritzige Art und Weise über erheiternde Themen. Ihr Name, das Cover und der provokative Titel Sterben Sie bloß nicht im Sommer – Und andere Wahrheiten, die Sie über Ihr Ende wissen sollten vermitteln bei einem flüchtigen Blick den Eindruck, dass es in dem im August 2012 bei Dumont erschienen Buch ebenfalls so sein könnte. Allerdings ist das Gegenteil der Fall. Trotz des erkennbaren, frisch-humorigen Schreibstils der Autorin ist das Buch bitterernst. Constanze Kleis verfasste es nach der unheilbaren, tödlich verlaufenden Erkrankung ihrer Mutter und den in diesem Zusammenhang gemachten Erfahrungen im Krankenhaus-, Reha- und Pflege-Alltag.

Ohnmächtige Wut kann dafür sorgen, dass man ungerecht wird. Blind um sich beißt oder schlägt, um sich zu wehren. Dass man anklagend auf jemanden zeigt, weil man sich verraten fühlt. Und angesichts der von der Autorin geschilderten Erlebnisse kann man ihre Wut in gewisser Weise fühlen. So lässt sie sich etwa auf Seite 210, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, über den Hausarzt aus. Zitat: Er wäre so gerne ein wirklich guter Mensch. Außer mittwochs. Da ist die Praxis geschlossen und auch das Mitgefühl hat Ruhetag.

Ist das Buch nur ein posthumer Aufschrei nach dem Tod ihrer Mutter? Stellvertretend gegen all das, wogegen man anschreien kann, weil besagter Tod einfach keine Ohren hat? Oder steckt mehr dahinter?

In ihrem Buch erzählt die Autorin nicht nur die Krankengeschichte ihrer Mutter, die sie zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Vater bis zuletzt eng begleitete. Sie startet tatsächlich auch einen Rundumschlag gegen die Entmenschlichung in unserem zunehmend privatisierten und gewinnmaximierten Gesundheitssystem und der damit verbundenen profitablen Sterbeindustrie. Erwähnt dabei Ärzte, die nicht mit der Familie reden wollen. Pampig reagierendes Klinikpersonal, das zudem stellenweise schlampig bis fahrlässig arbeitet. Schreibt von denjenigen, die gerade dann im Urlaub sind, wenn man sie braucht und fatalerweise keine Vertretung haben. Von Behandlungsdokumentationen, die nicht nur lückenhaft sind, sondern von der Wirklichkeit abweichen. Berichtet von Klinikverwaltungen, die nach berechtigten Reklamationen Einschüchterungsversuche starten. Lässt auch  Versicherungen, Kranken- und Pflegekassen und den Medizinischen Dienst nicht außen vor, die auf Paragrafen und/oder Richtlinien beharrend auf Zeit spielen, wo es gar keine Zeit mehr zu verlieren gibt. Und wettert eben gegen jenen Hausarzt, der entgegen der Beteuerung, jederzeit erreichbar zu sein, nicht erreichbar war.

Die von ihr geschilderten Übel sind, so persönlich Constanze Kleis sie auch erlebt hat, seit Langem allgemein bekannt. Dennoch haben sie sich in den vergangenen Jahren fatalerweise eher intensiviert als verbessert.

Tatsächlich hat Kleis zu gut recherchiert und die Ergebnisse stringent in ihr Buch eingeflochten, als dass man ihr den Vorwurf eines traumabedingten, verzweifelt-pauschalen Rundumschlags machen kann. Die Autorin verweist zur Untermauerung ihrer Aussagen auf Studien und diverse Berichte, nennt Quellen und gibt Interviews wieder. Sie geht auf Fördermittel ein und Privatisierung, auf Lohndumping, bürokratischen Unsinn und unlogische Dezentralisierungen. Spricht explizit zu viele Dinge (etwa die ungleiche Bezahlung häuslicher Pflege im Gegensatz zu einer solchen mittels Pflegediensten oder in Pflegeheimen) an, die in unserem Gesundheitswesen allgemein eindeutig besser laufen bzw. völlig geändert werden müssen.

Stellenweise beißend sarkastisch, dann wieder leicht ironisch, mal bitter, mal voller Trauer aber nicht weinerlich und mal distanziert schildert die Autorin Missstände, die (wie ich aus eigener Erfahrung weiß) bedauerlicherweise und leider nicht nur hierzulande ganz und gar nicht unrealistisch sind. Egal ob es sich darum handelt, dass man als Angehöriger für diverse Ärzte praktisch unsichtbar oder für hysterisch oder grenzwertig minderbemittelt gehalten wird. Oder darauf, dass man seltsamerweise irgendwann sogar Verständnis für Dinge entwickelt, für die man im Grunde kein Verständnis haben kann, einfach weil man keine Alternative weiß. Dass unabhängig vom Umgang mit den Angehörigen Kranke zum Teil (glücklicherweise nicht immer) sukzessive ihrer Würde beraubt werden. Das Mitgefühl ein Auslaufmodell in unserer Gesellschaft zu sein scheint. Und dass man während der schweren Zeiten, die lebensbedrohliche und akute Erkrankungen mit sich bringen, in einem Meer aus Hilflosigkeit zu ertrinken droht. Dass man geradezu erstarrt und sich allein gelassen fühlt. Dass man sich nicht traut, auf den Tisch zu schlagen, weil man fürchtet, dass der Falsche und Schwächste die Konsequenzen tragen muss. Dass es eine riesengroße Diskrepanz zwischen beworbener oder gepriesener Wahrheit und tatsächlichen Gegebenheiten gibt.

Insgesamt lässt Kleis ihre LeserInnen nicht nur an ihren individuell gemachten schlechten Erfahrungen und schockierenden Rechercheergebnissen im Bezug auf Studien, Statistiken und Berichten teilhaben. Auch andere Betroffene und (menschlich gebliebene) Behandler tragen ihren Teil zum Buch in Form von Interviews bei. Etwa ein ganzheitlich denkender und handelnder Chirurg aus Frankfurt. Oder eine Krankenschwester, die ihren Beruf einst aus der Überzeugung ergriff, anderen damit wirklich helfen zu können; heute jedoch desillusioniert resümiert, dass sich das Berufsbild völlig verändert hat. Kleis ist nicht blind gegenüber der Tatsache, dass die eigene Moral angesichts häuslicher Pflege auf den Prüfstand gehört. Sie lässt auch die Tatsache nicht unberücksichtigt, dass manchen Angehörigen im Zuge einer privaten Pflege nichts anderes übrig bleibt, als konspirativ und nicht immer ganz legal zu agieren, wollen sie ihren Kranken eine adäquate Versorgung bieten. Fatalerweise werden – wie auf Seite 206 zu lesen ist – zu Hause betreuten Pflegebedürftigen doppelt so häufig Leistungen verwehrt, wie denen in Pflegeheimen.

All dies, ist trotz der enthaltenen Tragik und Wut dank des ganzen Sarkasmus auf durchaus unterhaltsame Weise und mit dezentem Wortwitz niedergeschrieben. Leichter wird die Lektüre dadurch nicht, dazu ist die Thematik einfach zu ernsthaft und aufwühlend.

Verständlicherweise hat die Autorin mit ihrem Buch einigen Widerspruch bei denen ausgelöst, die sich negativ davon angesprochen fühlen. Bei einigen davon kann man mit Sicherheit den Spruch „getroffene Hunde bellen“ anwenden. Genauso sicher darf man aber vermutlich davon ausgehen, dass Kleis im Zuge des Erlebten dem einen oder anderen Beteiligten auf die Füße getreten ist, obwohl der oder die betreffende Person am wenigsten dafürkonnte. Einfach, weil man auch als Kranker oder Angehöriger einen (durchaus nachvollziehbaren) Egoismus entwickelt, den man anderen jedoch nur bedingt zubilligt.

Nicht jeder hat das Glück im Fall einer schwerwiegenden oder gar tödlichen Krankheit über Angehörige zu verfügen, die sich finanziell und/oder zeitlich in Pflege und Versorgung einbringen können. Nicht jeder hat die Kraft, im Fall der Fälle den Kampf gegen Windmühlenflügel aufzunehmen. Doch genau so ein Kampf kommt viel zu häufig auf Kranke und ihre Angehörigen zu. Constanze Kleis hat ihn, gemeinsam mit ihrer Familie, erlebt und in einem berührenden, aufwühlenden Buch verarbeitet.

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Sterben Sie bloß nicht im Sommer – Und andere Wahrheiten, die Sie über Ihr Ende wissen sollten ist kein Buch für nebenher. Die darin von der Autorin aufgeworfenen Fragen können Angst machen, ebenso wie die eine oder andere von ihr gefundene Antwort. Nicht, weil es keine Lösungsansätze an sich zu geben scheint. Eher, weil die wenigsten von uns vor schwerwiegender Krankheit und den daraus resultierenden Folgen gefeit sind. Es ist kein leichtes Buch, aber ein lesenswertes. Eins das berührt, polarisiert, fassungslos und nachdenklich macht und unter die Haut geht. Die in dem Buch zum Ausdruck kommenden Gefühle (Trauer, Verbitterung, Wut) sind logischerweise nicht objektiv, da sie aus eigenen schmerzhaften Erfahrungen entstanden sind. Sie lassen sich nicht werten. Die Recherchen und der Schreibstil schon. Ob man es im Fall der Fälle schafft, den latent enthaltenen oder explizit ausgesprochenen Empfehlungen der Autorin Folge zu leisten, steht zugegebenermaßen auf einem anderen Blatt. Doch es ist wichtig, dass diese Themen immer wieder und immer lauter angesprochen werden. Dass man nicht alles hinnimmt. Dass man sich wehrt. Nur so schaffen wir es vielleicht irgendwann wieder, unsere Kranken in Würde zu behandeln, zu pflegen und zu verabschieden, statt uns kräfteraubend um Unsinnigkeiten streiten und gegen gewinnorientierte Sparmaßnahmen kämpfen zu müssen.

Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)

2. Dezember 2012

Schophaus, Michael: Im Himmel warten Bäume auf dich

Filed under: Erfahrungen/Biografien,Tod/Trauer — Ati @ 18:40

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Goldmann
ISBN-13: 9783442151486
ISBN-10: 3442151481
Biografien, Erinnerungen
Vollständige Taschenbuchausgabe 03/2002
Taschenbuch, 184 Seiten
[D] 8,00 €

Anlässlich des kürzlich besprochenen Buches Mama, ich hab Krebs fiel mir wieder ein Buch ein, das seit einigen Jahren in meinem Besitz ist. Auch darin geht es um den viel zu frühen Tod eines Kindes, auch dieses ist von einem Elternteil geschrieben, das versucht mit dem schmerzhaften Verlust fertig zu werden. Das ist jedoch die einzige Gemeinsamkeit, die diese beiden so ungleichen Bücher haben.

Es gibt Bücher, die vergisst man nicht. Das von Schophaus gehört für mich dazu. Es handelt von Tod und Verlust, von Trauer. So eindringlich, dass man sich beim Lesen und auch noch danach fast an dem kleinen Bettchen sitzen sieht und den Jungen darauf festhalten möchte. Jedes Mal, wenn ich es zur Hand nehme, berührt es mich unendlich. Abgesehen davon verbinde ich für mich damit eine persönliche Geschichte.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der pendelte ich arbeitsbedingt zwischen Stuttgart und Berlin. Da meine Maschine eines Abends (nicht zum ersten oder letzten Mal) überbucht war, wartete ich auf meinen Ersatzflug und investierte den Betrag, den mir die Fluggesellschaft als Ausgleich für den späteren Flug anbot, schon vor Erhalt teilweise in neue Lektüre. Beim Stöbern fiel mir Im Himmel warten Bäume auf dich aus irgendeinem Grund direkt aus dem Regal entgegen. Die kleine Narbe des Schnitts, den ich mir beim Fangen zuzog, sieht man heute noch. Obwohl bereits angesichts des Titelbildes auch ohne Beachtung des Untertitels Die Geschichte eines viel zu kurzen Lebens klar war, dass ich damit nicht wie vorgesehen etwas Lustig-entspannendes erwarb, nahm ich das Buch kurzerhand mit. Obwohl man ihm die Krankheit ansieht, wirkten das Gesicht und die Augen des kleinen Jungen, der kahlköpfig an Schläuchen hängend, auf seinem Bettchen sitzt, ein Eis in der kleinen Hand haltend, zu spitzbübisch, um das Buch einfach wieder ins Regal zu stellen.  

Trotz einiger tatsächlich ebenfalls gekaufter leichter und/oder amüsanter Romane, begann ich es zu lesen, während ich darauf wartete, an Bord meiner Maschine gehen zu dürfen. Neben mir saß ein Mann. Ihm war offenbar langweilig, denn er fragte mich, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn er mitlas. Machte es natürlich nicht. Und da wir im Flugzeug zufälligerweise direkt nebeneinander platziert waren, konnte er auch dort mitlesen. Wir beide schafften es damals nicht, unsere Tränen zurückzuhalten, drohten in einem Wechselbad an Gefühlen zu ertrinken. Das gemeinsam begonnene Buch war der erste Schritt in eine wunderbare Freundschaft. Sie verbindet uns heute, 10 Jahre später, und mittlerweile 1.630 km voneinander getrennt, noch immer.

Was Rainer an diesem Donnerstagabend noch nicht einmal ahnen konnte war, dass bei seiner eigenen Tochter nur fünf Wochen später ebenfalls eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wurde. Rainer hat mir einmal gesagt, dass unsere Freundschaft ihm in der Zeit vor Svenjas Tod und auch danach viel Kraft gegeben hat. Insoweit bin ich unendlich dankbar, dass mir dieses Buch damals einfach so, aus unerfindlichen Gründen entgegen fiel. Auch, weil die nochmalige Lektüre gerade dieses Buches Rainer in der Zeit nach der kleinen Svenja Kraft gab. Kein Wunder, dass auch manche Bestatter es als Trauerliteratur empfehlen. Bedauerlicherweise ist es im Buchhandel seit längerem vergriffen.

Trotz der schrecklichen Krankheit und seinem frühen Tod, den er als Blödmann bezeichnete, wirkt Jakob durch die niedergeschriebenen Erinnerungen von Michael Schophaus lebendig, kindlich kraftvoll. Und obwohl früh klar ist, das Jakob keine Chance auf eine Zukunft hat, ging seine Kraft doch viel zu plötzlich zu Ende. Jakob liebte Bäume, in allen Größen und Formen. Als er ging, blickte er auf einen Weihnachtsbaum und draußen tobte der Sturm.

Obwohl ihn Krankheit und Behandlung aufzehren, animieren diverse Passagen im Buch zum Lächeln. Zwei Jahre durfte Jakob leben, bevor die Diagnose Neuroblastom kam. Danach blieben noch 600 Tage bis zu seinem Tod. 600 Tage an denen Schophaus seinen Sohn begleitete und unterstützte so gut es ging. 600 Tage, die ihn einen Blick in die Hölle werfen ließen. Eine Hölle in der – so Schophaus – kleine, mutige Kinder mit Glatze sitzen und kotzen. Denen er von Herzen den Himmel wünscht, weil sie ihn verdient haben. Wer einmal eine onkologische Kinderstation besucht hat, stimmt ihm da sicherlich ohne zögern zu.

Tagebuchartig lässt Schophaus LeserInnen an dieser Zeit teilnehmen. An den Hoffnungen, die entstehen, wenn Jakob kurzzeitig nach Hause darf. An der Verzweiflung, wenn die Haare ausgehen, neue Tumore auftauchen. Ebenso an dem unerträglichen Krankenhausbetrieb, den Schmerzen, den Behandlungen. Er verbirgt seine Hilflosigkeit, Trauer und Wut nicht, erinnert aber auch an Momente des Glücks. Er lässt LeserInnen seinen Sohn unmittelbar kennenlernen, auch wenn der kleine Jakob physisch nicht mehr unter uns weilt. Dieser bezaubernde kleine tapfere Junge, der sein Leiden in all seiner Kindlichkeit ertragen muss. Der Fragen stellt, Antworten gibt. Der nie die wirkliche Chance hatte, wie andere Kinder Kind zu sein, erwachsen zu werden.

Auch wenn die Familie versucht, so normal wie möglich zu leben, wird doch deutlich, wie viel Kraft Jakobs Leidensweg sie kostet. Dabei wird Schophaus in seinen Erinnerungen nicht melodramatisch. Trotz Wut und Ohnmacht wirkt er nicht verbittert. Dennoch schildert er auch sehr deutlich, wie er sein Umfeld in der Zeit damals erlebte. Krankenhauspersonal, Arbeitskollegen, Freunde. Nicht immer sind die Erfahrungen mit ihnen positiv, was das Empfinden von Jakobs Erkrankung noch schlimmer macht.  

Der 1956 in Bottrop geborene Journalist und Autor Michael Schophaus lebt heute mit seiner Frau und zwei Kindern abwechselnd in Hamburg und bei Köln. Er verfasste unter anderem das Buch Zu jung, um alt zu sein. Die Geschichte einer rätselhaften Krankheit, mit dem Goldmann (laut Wikipedia) im Jahr 2004 das erste Buch weltweit zum Thema Progerie (Vorzeitige Vergreisung im Kindesalter) auf den Markt brachte.

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Im Himmel warten Bäume auf dich ist die reale Geschichte des kleinen Jakob und seinem aussichtslosen Kampf gegen eine unheilbare Krankheit. Eine Geschichte, die an die Nieren geht. Nicht nur, weil Jakob viel zu jung gehen musste. Auch weil Schophaus seine Hilflosigkeit, Wut und  Trauer, aber auch gute Erinnerungen ergreifend umgesetzt hat. Trauer kann man nicht werten – dieses Buch jedoch schon. Es verdient mehr als fünf Punkte und Jakob einen Himmel voller Bäume.

Copyright ©, 2012 Antje Jürgens (AJ)

 

 

25. November 2012

Scherer, Christa: Mama, ich hab Krebs

Filed under: Erfahrungen/Biografien,Tod/Trauer,Tod/Trauer — Ati @ 18:49

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undercover books
ISBN-13: 9783942661379
ISBN-10: 3942661373
Biografien, Erinnerungen
1. Auflage 10/2012
Taschenbuch, 92 Seiten
[D]10,00 €

Verlagsseite 

Einen geliebten Menschen zu verlieren, zählt zum Schlimmsten, was uns im Leben geschehen kann. Heike Gaschler war gerade 30 Jahre alt, als sie nach schwerer Krankheit verstarb. Ihre Mutter Christa Scherer hat im Rahmen ihrer Trauerbewältigung ein Buch über das letzte Lebensjahr ihrer Tochter geschrieben. Der Reinerlös aus dem Buchverkauf kommt der Deutschen Kinderkrebshilfe zugute. Vier Jahre nach dem Tod ihrer Tochter möchte die Autorin den LeserInnen Heike vorstellen, wie sie in ihrem Vorwort anführt. Sie fügt hinzu, dass das Buch aus der Aufarbeitung von Heikes Tagebucheinträgen entstanden ist, die sie durch eigene Berichte und Gedanken ergänzt hat.  

Und so erfährt man in einfachen Worten, dass die junge Frau frisch verheiratet war, mit ihrem Mann Thomas ein Haus baute, bei Kollegen beliebt war, ihre Freizeit aktiv gestaltete und gerne feierte. Ebenso, dass sie ein vielleicht nicht immer perfektes aber doch recht enges Verhältnis zu ihren Eltern hatte. Einige Fotos von Heike wurden in das Buch eingearbeitet.  

Dieses fröhliche, aktive Leben endete im Dezember 2007. Man erfährt von Heikes Beschwerden, die mit an sich harmlosem Magendrücken begannen, zu Magenschmerzen, Entzündungen und einem Geschwür auswuchsen. Bis kurz vor ihrem Tod, wusste die junge Frau nicht, dass sie Krebs hatte, weil sie zu dem relativ kleinen Patientenanteil gehört, bei dem sich maligne Metastasen vor dem Primärtumor bemerkbar machen. Die Überlebenschancen dieser Patienten sind überaus gering, weil in der Regel erst viel zu spät mit der Behandlung begonnen werden kann.  

Nicht nur aus eigener Erfahrung weiß ich, dass eine Krebsdiagnose dazu führt, dass man sich vorkommt, als ob man aus vollem Lauf gegen eine Wand prallt. Dieses Empfinden resultiert oft aus der Art und Weise, wie mit Patienten aber auch Angehörigen umgegangen wird. Die distanzierte, teils kaltschnäuzig wirkende Haltung von Ärzten oder Pflegepersonal kommt auch in Mama, ich hab Krebs zum Ausdruck. Allerdings stehen diese oft genauso hilflos vor ihren Patienten wie die Angehörigen; wollen helfen, können es jedoch nicht. Es entschuldigt zugegebenermaßen nicht alles, erklärt aber vielleicht einiges, wenn man sich vor Augen hält, dass sie tagtäglich mit Krankheit, Tod und oft auch mit ihrer eigenen Hilflosigkeit konfrontiert werden. Darüber hinaus wird in kurzen Einschüben, in denen Heikes Mutter erwähnt, darauf hingewiesen worden zu sein, dass keine Überlebenschance bestand, auch klar, wie schwierig es auch für Angehörige ist, das Offensichtliche zu sehen und umzusetzen. Zu akzeptieren. Mehr als einmal habe ich selbst auf onkologischen Stationen die Erfahrung gemacht, dass das Unfassbare kaum ausgesprochen aus (verständlichem) Selbstschutz beiseite geschoben wird, weil es eben einfach unfassbar ist. Unmöglich. Nicht sein darf. Auf diese Weise wird betroffenen Patienten oft noch das letzte bisschen Lebensqualität genommen, weil bis zum bitteren Ende beispielsweise noch mit Chemotherapie behandelt wird, wird unbegründete Hoffnung geweckt und künstlich am Leben erhalten. 

Wer angesichts des Vorwortes denkt, dass vorwiegend Heike über ihre Tagebucheinträge zu Wort kommt, irrt. Tatsächlich dürften verschiedene Zitate daraus insgesamt etwa eine Seite des Buches füllen. Sie ergänzen die Ende Oktober 2006 ansetzende Erzählung, in der sich vorwiegend Emotionen und Eindrücke von Christa Scherer in Form von Schmerz, Angst, Hilflosigkeit, Wut, Fassungslosigkeit und Verbitterung, aber immer wieder auch der Wunsch zu verdrängen bzw. zu vergessen offenbaren – über die Ursachensuche, die erste niederschmetternde Diagnose am 12. November 2007 und den Tod Heikes sechs Tage vor Weihnachten. Es offenbart sich ein Schuldgefühl dahin gehend, nicht genügend Zeit mit ihrer Tochter verbracht zu haben, die Sache nicht ernst genug genommen zu haben. Bitterkeit über die scheinbare Rücksichtslosigkeit von Heikes Ehemann, aber auch über eine offenbar karrieresüchtige Kollegin. Und wie bereits angesprochen, Wut auf die scheinbar zu spät reagierenden Ärzte.  

Auch dies geschieht in einfachen Worten, teils vagen Andeutungen, teils etwas genauer ausgeführt. Dabei zeigt sich eine Einseitigkeit, die in gewisser Weise, aber nicht nur aus der erzählenden Sichtweise resultiert. Noch viel mehr enthüllt sich jedoch, wie wichtig es für Christa Scherer war, sich ihre Erlebnisse von der Seele zu schreiben. Sowohl die guten Erinnerungen zu konservieren, wie auch die eigentlich unaussprechlichen zu formulieren. Auch um sich daran zu erinnern, dass sie die Chance hatte, die letzten Tage sehr intensiv mit ihrer Tochter zu erleben. Ganz zum Schluss deutet sich auch an, dass sie auf ihrem schmerzlichen Weg der Trauerbewältigung ein Stück vorwärts gekommen ist.

Fazit: Kein erbauliches oder Mut machendes Buch, sondern eins, in dem Schmerz zum Ausdruck kommt über etwas, worauf wir keinen Einfluss haben. Ein Buch, dem ich keine Wertung geben kann, denn Trauer lässt sich nicht werten.

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

3. Mai 2012

Ness, Patrick nach einer Idee von Siobhan Dowd: Sieben Minuten nach Mitternacht

Filed under: Jugendbuch,Roman,Tod/Trauer,Tod/Trauer — Ati @ 15:38

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Patrick Ness nach einer Idee von Siobhan Dowd: Sieben Minuten nach Mitternacht


Originaltitel: A monster calls
Aus dem Englischen übersetzt von
Bettina Abarbanell
Goldmann Verlag
ISBN-13:
9783442312801
ISBN-10:
3442312809
Jugendbuch (ab 12 Jahre)
1. Auflage 2011
Illustration:
Jim Kay
Hardcover mit Schutzumschlag, 216 Seiten
[D] 16,99 €

Verlagsseite
Autorenseite
(englisch)

 

Die 1960 geborene irisch-britische Autorin Siobhan Dowd verstarb 2007 nach dreijähriger Krankheit an Brustkrebs. Dowd kam erst spät zum Schreiben. Ihre drei zu Lebzeiten veröffentlichen Romane (A swift pure cry/Ein reiner Schrei, The London Eye Mystery/ Der Junge, der sich in Luft auflöste und Bog Child/Anfang und Ende allen Kummers ist dieser Ort) wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Solace of the Road/Auf der anderen Seite des Meeres konnte erst nach ihrem Tod veröffentlicht werden. Doch der Roman war genauso lebendig und packend wie seine Vorgänger. Ihr fünftes Werk konnte sie nicht mehr vollenden. Doch es gab bereits ein detailliertes Exposé, einen Anfang, die Figuren. Aus diesem Romanfragmenten schuf dann der 1971 geborene US-amerikanische Autor Patrick Ness A monster calls, dessen deutsche Übersetzung Sieben Minuten nach Mitternacht mit wunderbaren Illustrationen von Jim Kay gerade vor mir liegt.

 

Mit diesem Buch gelang ihm – posthum, und obwohl er nie persönlich auf Dowd traf – eine wundervolle Gemeinschaftsarbeit. Der Roman passt nicht nur zu Dowds Schreibstil, ist also ebenfalls aufrüttelnd, lebendig, einfühlsam und berührend geschrieben. Er ist darüber hinaus ein würdiger Abschluss der Idee der wunderbaren, viel zu früh verstorbenen Autorin. Ness, der bisher mit seinen ebenfalls preisgekrönten SF-Romanen für Jugendliche von sich reden machte, überzeugt mit diesem Roman und erhielt sowohl die Carnegie Medal wie auch den Deutschen Jugendliteraturpreis.

 

In Sieben Minuten nach Mitternacht geht es um Conor. Die Mutter des 13Jährigen unterzieht sich gerade erneut einer Krebsbehandlung, doch es ist abzusehen, dass sie den Kampf gegen ihre Krankheit nicht gewinnen kann. Sein Vater lebt in Amerika, hat eine neue Familie gegründet.

 

Gleich eingangs wird klar, wie schwach Conors Mutter bereits ist. Und wie schwer die Situation für Conor sein muss, der ihren sukzessiven Verfall aus nächster Nähe miterlebt. Er liebt seine Mutter über alles und möchte sie nicht verlieren. Deshalb klammert er sich verständlicherweise an die kleinsten Strohhalme der Hoffnung, redet sich selbst gut zu und vieles schön. Da er jedoch weiß, wie sehr seine Mutter sich quälen muss, fühlt er sich schuldig, weil er sie nicht loslassen kann. Unbewusst ist ihm längst klar, dass der Kampf verloren ist. Bewusst lässt er dieses Denken jedoch nicht zu und fühlt sich noch schuldiger, wenn er sich und ihr wünscht, dass sie endlich sterben darf.

 

Der Kummer, der ihn erfüllt, während er hilflos beobachten muss, wie seine Mutter von Tag zu Tag schwächer wird und das Wissen um den baldigen Verlust nehmen ihm den Atem. Tagsüber wird er immer unberechenbarer, worauf jedoch niemand strafend reagiert, wie er sich das eigentlich wünscht. Alle nehmen Rücksicht auf ihn. Nur in seinen Träumen nimmt der Tod seiner Mutter – seine größte Angst, der gleichzeitig auch sein größter Wunsch ist – Gestalt an. Dann entgleitet sie ihm. Stürzt ab, weil er sie nicht mehr halten kann. Dieser monströse Albtraum lässt ihn Nacht für Nacht panisch und schweißgebadet Sieben Minuten nach Mitternacht hochschrecken. Er kann sich niemandem anvertrauen. Und dann nimmt ein ganz anderes Monster Gestalt an und drängt in sein Leben. Eine Eibe vom Friedhof verwandelt sich um Sieben Minuten nach Mitternacht.

 

„Wer ich bin?“, wiederholte das Monster, immer noch brüllend. „Ich bin das Rückgrat, auf dem die Berge ruhen! Ich bin die Tränen, die die Flüsse weinen! Ich bin die Lunge, die den Wind atmet! … Es sah Conor direkt in die Augen. „Ich bin die wilde Erde selbst, und ich bin deinetwegen hier, Conor O´Malley.“

 

So schrecklich das Monster auch ist, Conor fürchtet sich nicht vor ihm. Es erzählt ihm drei Geschichten und will dann als vierte Conors Wahrheit von ihm hören. Eine Wahrheit die Conor schmerzt und LeserInnen zu Tränen rührt, egal ob es sich um das jugendliche Zielpublikum oder jemanden wie mich handelt, die etliche Jahre davon entfernt ist. Denn das Monster kennt seine größte Angst und seinen innigsten Wunsch, für den er sich selbst hasst.

 

Das Buch ist temporeich und beschreibt den Alltag des Jungen. Es enthält neben dem thematisch ernsten, überaus emphatisch umgesetzten Teil auch humorvolle Streitgespräche zwischen Conor und der Monster-Eibe. Im Gegensatz zu allen anderen packt sie ihn nicht in Watte. Trotzdem fühlt sich Conor nicht im geringsten von ihr eingeschüchtert, geht teils sehr respektlos mit dem riesigen Baum um, sieht er doch die Geschichten als unsinnig an. Doch sie haben einen tieferen Sinn, der sich gegen Ende offenbart. Sie zeigen nicht nur, dass gut und böse willkürliche Begriffsdefinitionen sind. Sie lehren Conor auch, dass er seine Gefühle zulassen muss, um von seiner Mutter Abschied nehmen zu können.

 

Das alles beschreibt Ness voller Symbolkraft in einer klaren, bildhaften Sprache und webt so eine authentische Atmosphäre. Diese ist teils unheimlich aber niemals so bedrohlich, dass man das Buch weglegen möchte. Trotz des fantastischen Elements lässt sie keinen Raum für Fantasie im Hinblick auf die gegebene Situation. Ness beschreibt diese schnörkellos und ohne Beschönigungen. Erschafft lebendige Charaktere wie Conor, der trotz seiner Hilflosigkeit stark ist. Auf jeder Seite fühlt man sich mitten darin, direkt neben dem Jungen; bis Ness voller Emotionen aber gänzlich unsentimental Conor Sieben Minuten nach Mitternacht die letzten Momente mit seiner Mutter erleben lässt. Unterstützt wird das so entstehende Kopfkino durch die Illustrationen von Kay, die schwarz-weiß gehalten, perfekt dazupassen.

 

Obwohl früh klar ist, dass der Tod über das physische Leben von Conors Mutter siegen wird, das Buch also Trauer, Wut und Hilflosigkeit thematisiert, plädiert es noch weitaus mehr für das Leben. Lässt Liebe und Verständnis nicht außen vor. Vor allem jedoch spricht Ness direkt an, was in unserer Gesellschaft gerne verdrängt wird. Was uns sprachlos und hilfslos macht.

 

Fazit:

 

Kein leichtes Buch, das man einfach so nebenbei lesen kann oder sollte, dazu ist es zu sehr an die Realität angelehnt. Sieben Minuten nach Mitternacht ist jedoch eine gelungene Umsetzung eines schwierigen Themas und durchaus eine symbolträchtige Hilfestellung für real vergleichbare Situationen. Was die jugendliche Zielgruppe betrifft: Ja, es ist für sie geeignet, allerdings würde ich sie nicht mit diesem Buch alleine lassen, da ich denke, dass Gespräche dazu sinnvoll wären. Darüber hinaus ist es jedoch auch für ältere LeserInnen lesenswert. Eine unendlich traurige, zeitlose Geschichte die tief berührt und nachdenklich macht. Eine, die man nicht so einfach vergessen kann und sollte. Ein wunderbares Buch, trotz der darin enthaltenen Tragik, dem ich fünf von fünf Sternen geben möchte.

 

Copyright ©, 2012 Antje Jürgens (AJ)

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