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13. November 2012

Mawer, Simon: Die Frau, die vom Himmel fiel

Filed under: Belletristik,Historisch,Roman — Ati @ 12:44

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Deutsche Verlags-Anstalt
Originaltitel: The girl who fell from the sky
Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel
ISBN 13: 9783421045652
ISBN 10: 3421045658
1. Auflage 11/2012
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 384 Seiten
[D] 19,99 €

Verlagsseite            

Autorenseite (englisch)

Mit dem von DVA herausgegebenen Titel Die Frau, die vom Himmel fiel von Simon Mawer kommt dessen erster ins Deutsche übersetzter Roman auf den hiesigen Buchmarkt. Mawer wurde 1948 in England geboren, wuchs in Zypern und Malta auf und lebt heute in Italien. Seit 1989 erschienen acht seiner Romane, die in über zwölf Sprachen übersetzt wurden. Es handelt sich um Chimera, A place in Italy, The bitter cross, A jealous god, The gospel of Judas, The Fall, Swimming to Ithaca, Gregor Mendel: Planting the seeds of genetics, und The girl who fell from the sky, der in seiner deutschen Übersetzung gerade vor mir liegt. Darüber hinaus gab es noch Mendel’s Dwarf und The Glass Room. Beide wurden für den Booker-Preis nominiert. Mawer schreibt, wie man bereits den Titeln entnehmen kann, also keine Liebeskomödien. 

In Die Frau, die vom Himmel fiel geht er auf ein Thema ein, das vielen eher unbekannt sein dürfte. Darauf, dass im Zweiten Weltkrieg in England junge Frauen zur Spionage ausgebildet wurden. Etwa fünfzig von ihnen wurden mit Fallschirmen über besetztem Gebiet abgesetzt, damit sie dort ihrer Tätigkeit nachgehen konnten. Benannt wurden diese SOE-Frauen nach ihrer nachrichtendienstlichen Spezialeinheit (Special Operations Executive). Fünfzig Jahre nach Entsendung des ersten SOE-Agenten wurde von der französischen Regierung das Vaelençay-SOE-Mahnmal enthüllt, welches einundneunzig Männer und dreizehn Frauen ehrt, die im Rahmen ihrer Spionagetätigkeit ihr Leben verloren. Zwölf dieser Frauen fielen den Deutschen zum Opfer, eine starb an einer Hirnhautentzündung.  

Marian Sutro ist einer dieser Frauen. Sie entstand in Erinnerung an Colette, der Mawer seine Geschichte widmet. Marian Sutro, alias Alice Thurrock, alias Anne-Marie Laroche. Als sie angeworben wird, ist sie schnell bereit zu tun, was man von ihr erwartet. Was ihr etwas Probleme bereitet ist, dass sie nicht in alles eingeweiht wird und das auch weiß. Sie muss blind vertrauen lernen. Nicht nur ihren Vorgesetzten und anderen Agenten, mehr noch sich selbst. Denn im Grunde darf sie gleichzeitig niemandem mehr trauen. Ihr Bauchgefühl, ihr Verstand, ihr inneres Radar muss funktionieren, wenn sie unentdeckt bleiben will. Sie muss ihre Vergangenheit als Tochter eines britischen Diplomaten und einer französischen Mutter vergessen, ihren Bruder. Eigentlich sollte sie auch Clément vergessen, den sie vor dem Krieg kannte, doch der rückt mit ihrer Mission plötzlich wieder zum Greifen nah, da er wie ihr Bruder Physiker ist. Sie muss von heute auf morgen eine Lüge leben, einfach weil sie die Fähigkeit besitzt, Französisch wie ihre Muttersprache zu sprechen. Sie wird im Töten ausgebildet, lernt Fallschirmspringen, zu morsen, sich zu verstellen. Das alles während des Krieges, also quasi im Schnelldurchgang.  

Speziell zu lernen, niemandem mehr zu trauen, ist überaus schwierig. Was man sein Leben lang gemacht hat, prägt schließlich das momentane Handeln. Situationsgebundene paranoide Denkweisen entstellen das Weltbild, das man für gewöhnlich hat. Als Marian gerade neunzehnjährig in Frankreich in ein Netzwerk von Spionen und ihren Helfern eintaucht, wird ihr bewusst, dass es keinen Plan B gibt. Dass im Notfall höchstens die Zyankali-Kapsel auf sie wartet, die ihr kurz vor Verlassen Englands überreicht wird. Da hilft es auch nichts, dass sie im Rahmen ihrer Ausbildung Benoit kennenlernt und eine Affaire mit ihm beginnt. In Frankreich ist sie auf sich allein gestellt. Der Großteil ihrer Tätigkeit ist Beobachten, Ausharren, auf den richtigen Moment warten. Doch sie wird auch als Kurier benutzt oder an der Ausschleusung relevanter Personen beteiligt. Clément ist als Physiker und im Wettlauf um die Bombe von überaus großem Interesse für die Engländer.  

Und genau wie andere Agenten muss sie bitter erfahren, dass die Deutschen ihre Augen und Ohren nicht selbst überall haben, sondern dass aus wegsehenden Zivilisten genau wie aus enttarnten Agenten Kollaborateure und Verräter werden können.  

Die Times schrieb zu Die Frau, die vom Himmel fiel: „Leidenschaft plus Gefahr – was könnte aufregender sein?“  

Mawers beginnt mit dem Kapitel Trapez. Überaus passend tituliert, denn was darin geschieht, weist eindrücklich darauf hin, dass es bei der Operation kein rettendes Netz gibt und eine einzige falsche Entscheidung zum Tod führen kann. Der Autor teilt danach seine Kapitel in die Zeit in England und Frankreich. Während die Zeit im ersten Teil im Präteritum abgefasst ist, sind die Kapitel in Frankreich im Präsens geschrieben. Diese Zeitform lese ich grundsätzlich nicht so gerne, allerdings unterstreicht sie in meinen Augen den Druck, unter dem Marian steht. Die einzelnen Kapitel sind relativ kurz und viele Details weben ein klares Bild der damaligen Zeit und Denkweisen. Marian wirkt erwachsen und abgeklärt, man sieht sie klar und doch in gewisser Weise gesichtslos vor sich. Ebenso die anderen Charaktere. Doch auch dies konveniert in meinen Augen mit ihrer Spionagetätigkeit.

Störend wirkte auf mich die Fülle französischer Formulierungen. Nicht weil ich etwas gegen die Sprache habe. Genau genommen ginge es mir mit jeder anderen Sprache genauso. Wenn die Atmosphäre stimmt und Marian glaubwürdig keinen Unterschied zwischen ihren beiden Muttersprachen macht (beides habe ich so empfunden), stört der beständige Wechsel eher. Zumal nur einige Formulierungen zeitnah übersetzt oder erklärt werden, andere jedoch gar nicht. 

Der Autor erzählt die Geschichte aus Marians Sicht in dritter Person. Allerdings kommen auch Passagen vor, in denen man sich direkt vom Erzähler angesprochen fühlt. Speziell im Frankreichteil fiel mir dies auf. Manchmal wirkten diese fast wie Gedanken von Marian, dann wieder wie die des Erzählers. Einige wirkten jedoch auch etwas hölzern auf mich und störten meinen Lesefluss. 

Gut umgesetzt ist jedoch der Wechsel im Erzähltempo. Mehr als einmal bremst Mawer an genau der richtigen Stelle ab, um heikle Momente hervorzuheben. Mehr als einmal nimmt genau im exakten Augenblick erzähltechnisch wieder Fahrt auf. 

Obwohl ich so ziemlich alles lese, zählen Agentenromane eher zu den Büchern, die ich weniger gerne zur Hand nehme. Vielleicht weil ich durch einen Exfreund bedingt etwas Bond-geschädigt bin. Sobald das Wort Agentenroman fällt, habe ich erst einmal diesen Namen im Kopf, bevor ich mich dann an andere erinnere. Egal ob die Figuren darin fiktiv oder reflektiv dargestellt werden, er drängt sich gedanklich bei mir recht unschön in den Vordergrund. Irgendwie störte mich seine Lizenz zum Töten, der technische Schnickschnack, mit dem er gegen die Bösen kämpft. Oder die Art, wie er das alles übersteht, quasi wie Phoenix aus der Asche steigt. Warum ich das erwähne? Wegen des oben stehenden Zitats der Times. Natürlich gehen nicht alle Agentenromane in diese Richtung, doch wer angesichts der Times-Formulierung eventuell erwartet, James-Bond-ähnliche Sexszenen in Hotelzimmern, im Flugzeug oder im-am-unter-auf-dem-Wasser zu lesen, wird enttäuscht. Mawers Roman kommt auch ohne große Explosionen und technische Spielereien mit Crash-Boom-Bang-Effekt aus. Und zwar ohne, dass etwas fehlt. 

Die Figuren in Die Frau, die vom Himmel fiel sind keine unzerstörbaren Kämpfer für Gut und gegen Böse. Es sind Menschen wie wir, die in etwas hineingezogen wurden, was größer ist, als sie vielleicht jemals annahmen. Schachfigurartige Spieler in einer Realität, die sich verselbstständigt hat. In der nicht immer hundertprozentig klar ist, wer nun richtig oder falsch handelt. Die Feinde und Freunde oder zumindest wohlgesonnene Dritte nicht immer gleich auf Anhieb erkennen. Die Fehler und Schwächen haben.  

Die im Times-Zitat erwähnte Leidenschaft spiegelt sich für mich im Bezug auf die Tätigkeit der Agenten wieder. Zwar hat Marian ganz normale Bedürfnisse, doch die treten angesichts der Geschehnisse dezent in den Hintergrund. Stört das? Sicher nicht, zumal man die Gefahr, in der sie und ihre Mitstreiter schweben, gut nachvollziehen kann. Die latente, aber ständig vorhandene Angst wird greifbar.  

Fazit: Laut Verlaggseite handelt es sich um einen packenden Roman über eine starke junge Frau, die Mut in gefährlichen Zeiten beweist, und eine »Casablanca«-gleiche Liebesgeschichte vor der Kulisse des historischen Paris. Doch nicht nur Casablancafreunde werden sich mit Die Frau, die vom Himmel fiel unterhalten fühlen. Trotz der vorgenannten Punkte konnte ich das Buch nicht zur Seite legen, wollte wissen, wie es mit Marian weitergeht. Angesichts des historischen Kontextes blieb Mawers ja wenig Spielraum für den Ausgang der Geschichte im Bezug auf den Rest der Welt. Marians Schicksal jedoch konnte er bis zum letzten Kapitel ungewiss lassen. Im Gesamten betrachtet wirkte der Großteil der Geschichte eher abstrakt distanziert als wirklich aufwühlend auf mich. Sie macht dennoch nachdenklich und berührend fand ich Die Frau, die vom Himmel fiel allemal. Daher möchte ich für Mawers Roman vier von fünf Punkten dafür vergeben. 

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

9. November 2012

Karl, Werner: Danger Zone – Science Fiction Stories

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tredition
ISBN13: 9783842400917
ISBN10: 3842400918
Kurzgeschichten, Science Fiction
1. Auflage 2011
Taschenbuch, 188 Seiten
[D] 13,49 €

Verlagsseite

Autorenseite 

Obwohl ich an und für sich keinem Genre gänzlich abgeneigt bin, zählte und zählt Science Fiction nicht zu meinen Favoriten. Zu abgehoben sind mir viele der Geschichten, zu schleimig habe ich manchen Alien im Hinterkopf (warum das immer so zugehen muss, ist mir ein absolutes Rätsel). Von den für mich abstrus, weil nicht nachvollziehbar, wirkenden technischen Erklärungen, die man darin oft findet, ganz zu schweigen. 

Nichtsdestotrotz bin ich 2010 auf Werner Karl, den Verfasser der vor mir liegenden, in Buchform abgefassten Kurzgeschichten, gestoßen. Der in Nürnberg geborene Autor lebt heute in Bayern. Hauptberuflich in der Druckindustrie tätig, widmet er seine Freizeit seit fast einem Jahrzehnt der Liebe zum Schreiben. In seiner Funktion als Chefredakteur von buchrezicenter.de verfasst er Buchbesprechungen zu den Genres Fantasy und Science Fiction. Daneben schreibt er jedoch auch eigene Kurzgeschichten und Romane.  

Seine Liebe zu diesem Genre entstand in den 1970ern, als er sich die Folgen einer US-TV-Serie mit dem Namen „The Twilligt Zone“ im Fernsehen ansah. Die in Danger Zone – Science Fiction Stories enthaltenen Kurzgeschichten sind denn auch als Hommage an diese Serie zu sehen. Darauf wird sowohl im Vorwort als auch auf der Buchrückseite hingewiesen. Wie man dem Inhaltsverzeichnis entnehmen kann, enthält das Buch eine Auswahl von zwölf Geschichten, die in den Jahren 1997 bis 2010 entstanden sind. Vier von Ihnen wurden in SF-Fanzines (SOLAR-X bzw. SOLAR-TALES) veröffentlicht, ein Teil im Rahmen von Wettbewerben auf diversen Websites eingestellt. Drei von ihnen sind ausschließlich in Danger Zone – Science Fiction Stories zu lesen.  

Wer die Geschichten nicht mühsam im Netz zusammensuchen möchte, gleichzeitig aber keinen Wert auf ein gedrucktes Buch legt, kann die zwölf Geschichten auch in Form eines E-Books bei tredition erwerben (ISBN 9783868508048). 

Da ich um Sci-Fi jedoch im Allgemeinen einen Bogen mache, weil mir vor dem Kauf grundsätzlich entgeht, ob es sich um Hardcore-Sci-Fi handelt oder nicht, war mir keine der Geschichten bekannt, als der Autor mich im April 2010 fragte, ob ich nicht Interesse daran hätte, eine Illustration zu der einer oder anderen anzufertigen. Und da mein zweiter Vorname statt Kerstin eigentlich Neugier heißen müsste, vertiefte ich mich kurz darauf in die mir zu diesem Zweck überlassenen Leseproben. 

Gleich vorab: Ich wurde nicht enttäuscht. Angenehm überrascht trifft es da eher.

Die erste Geschichte handelt vom ersten Menschen. In Anlehnung an die Bibel tritt er quasi im Paradies auf. Doch davon handelt die Geschichte nur bedingt, widmet sie sich doch eher der Entstehung seines Bewusstseins auf dem Weg ins Leben. Und, wieder in Anlehnung an die Akzeptanz einer göttlichen Macht, geht das Buch auch zu Ende; mit einer Geschichte, um einen kosmischen Neubeginn, dem zunächst einmal die Zerstörung von Bestehendem zugrunde liegt. 

Dazwischen geht es in Danger Zone – Science Fiction Stories natürlich auch um Raumsoldaten und Weltraumschlachten. Glücklicherweise (für mich) ergeht sich der Autor dabei jedoch nicht in zu ausführlichen Beschreibungen futuristischer Technologie oder wissenschaftlicher Annahmen. Und erfreulicherweise (ebenfalls für mich) handelt auch nur der kleinste Teil der zwölf Geschichten speziell davon. 

In dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse lässt er seine Figuren, ob nun der Menschheit oder anderen Spezies angehörend, eher über diverse Dinge philosophieren. Man findet Geschichten über Neubeginn und Rettung. Solche, die von Ängsten und Hoffnungen handeln, von geschenkter Unsterblichkeit und übernatürlichen Fähigkeiten. Natürlich kommen Außerirdische vor, nur nicht unbedingt so, wie ich sie mir bisher vorgestellt hatte. Es ist eher wie bei dem Spruch, dass man im Ausland eben auch zum Ausländer wird. Es wimmelt von Mutanten in Form von Emphaten und Gestaltwandlern, nicht zu vergessen sind die jene, die telepathische Fähigkeiten haben, die manipulieren oder sich mal eben kurz teleportieren könnten. Sie alle haben mehr oder weniger tiefe Gefühle, können Schmerz empfinden und Angst. Für viele von ihnen wird neben dem Raum auch die Zeit zu einem relativen Begriff.  

Kurzweilig, stellenweise humorvoll, beschreibt Karl Welten und Wesen, die trotz ihrer fantastischen Existenz authentisch wirken. Welten und Wesen, die sofort klare Bilder vor meinem inneren Auge entstehen ließen. Nicht für alle geht die jeweilige Geschichte gut aus. Es gibt Opfer, die nicht per se gut sind, und Täter, deren Motivation nicht immer aus dem Bösen heraus entsteht, manches geschieht aus Missverständnissen heraus. Endgültig ist das, was passiert, jedoch meistens und für die Menschheit sieht es schlecht aus. 

Wie man all dies sieht, überlässt der Autor einem selbst. Seine Geschichten haben einen durchaus nachdenklich machenden Touch. Irgendwie scheint der Wunsch darin verwoben, durch das Drücken einer Art Reset-Taste, den momentanen, realen Verlauf durchbrechen zu wollen. Die Einsicht, dass der Mensch das größte Problem darstellt. Dass Angriff die beste Verteidigung sein soll, wird in mehr als einer Geschichte klar, während gleichzeitig durchklingt, dass es auf die Betrachtungsweise ankommt, ob man das nun gut oder weniger gut empfindet.  

Es gibt den einen oder anderen kleinen Logikfehler, die eine oder andere Länge. So ergeht sich der Protagonist in der Geschichte Spring in fast zu ausführlichen Überlegungen. Diese wirken zudem etwas weit hergeholt. Andererseits: Wer weiß schon, wie wir uns tatsächlich in so einem Fall verhalten würden. Der Schreibstil von Werner Karl ist klar und flüssig, die Kapitel mehr oder weniger kurz gehalten. Fast durchweg alle haben sich recht schnell lesen lassen.  

Etwas störend hat in dem Buch der jeweilige Copyright-Vermerk am Ende der jeweiligen Geschichte auf mich gewirkt. Das hätte in meinen Augen nur notgetan, wenn mehrere Autoren ihre Beiträge in dem Buch veröffentlicht hätten.

Fazit: Kurzweilige Lektüre für SiFi-Fans und solche, die es werden wollen. Und für LeserInnen wie mich: Die neugierig in alle Genres spähen und dabei immer wieder Lesenswertes finden – wie beispielsweise Werner Karls Danger Zone – Science Fiction Stories, denen ich trotz kleinerer Schwächen vier von fünf Punkten geben möchte.  

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

Höra, Daniel: Braune Erde

Filed under: Jugendbuch,Roman — Schlagwörter: , , , , — Ati @ 11:48

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bloomsbury

ISBN 13: 9783833350993

ISBN 10: 3833350997
Jugendbuch (14 – 17 Jahre)
1. Auflage 09/2012
Taschenbuch, 302 Seiten
[D] 8,99 € 

 Verlagsseite

Kennen Sie bloomsbury? Nein? Nun, dann sollten Sie vielleicht einen Blick auf deren Homepage werfen. Im Februar hat Piper den deutschen Zweig Berlin Verlag/Bloomsbury Berlin übernommen, doch bereits davor war er Lesern anspruchsvollerer Jugend- und Kinderliteratur ein Begriff.  

Im September 2012 kam dank bloomsbury der neue Roman von Daniel Höra mit dem Titel Braune Erde in den Verkauf. Damit verlegt bloomsbury bereits den dritten Roman des Autors, der 2009 für sein Debüt Gedisst Lob einheimste, mit seiner Dystopie Das Ende der Welt 2011 nachlegte und mit dem momentan aktuellen Roman Braune Erde erneut mehr als einen Leser erschüttern wird – und zwar nicht nur in der vom Verlag vorgeschlagenen Altersgruppe (14 – 17 Jahre). Wobei genau genommen sein wirklicher Debütroman bereits im Jahr 2001 unter dem Pseudonym Daniel Knüllmann und mit dem Titel Moya! erschien. 

Daniel Höra wurde 1965 in Hannover geboren, seine berufliche Laufbahn liest sich bewegt. Er war Möbelpacker und Altenpfleger, Taxifahrer und TV-Redakteur, bevor er als freier Autor tätig wurde. Dass er einen kritischen Weltblick hat, bewies er bereits mit seinem bloomsbury-Debüt Gedisst. Und so wundert es nicht, dass er nach den fragwürdigen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Zwickauer Trio das Thema Rechsextremismus aufgreift. Viele werden bei dem Thema automatisch Neo-Nazis vor Augen haben, die für ihre Gewaltbereitschaft bekannt sind. Doch die rechte Szene ist viel vielschichtiger. Der weitaus größere Teil von ihnen bleibt eher unauffällig.  

Besagtes Terrortrio und die Pannen der ermittelnden Behörden bleiben in Braune Erde komplett außen vor. Höra beschreibt darin die gewaltbereite rechte Szene, doch es kommen ebenso scheinbar nette, um Gemeinschaft und Freundschaft bemühte, sogenannte völkische Siedler darin vor, die nicht weniger gefährlich sind.  

Das muss Ben lernen. Der Fünfzehnjährige lebt nach dem Unfalltod seiner Eltern bei Verwandten in einem Dorf ohne Perspektiven in Mecklenburg. Immer mehr Anwohner ziehen weg. Vereine gibt es genauso wenig wie ein Lebensmittelgeschäft, eine Postagentur oder irgendetwas anderes, was die Dorfgemeinschaft fördern könnte. Fast jeder ist arbeitslos. Man bleibt für sich und auch Ben ist ein unscheinbarer Junge, der gerne liest und viel alleine ist. Einzig mit einem Künstler Georg pflegt er so etwas wie eine engere Freundschaft. Zumindest bis ein Ehepaar mit ihrer Tochter und ein Witwer mit zwei Söhnen nach Bütenow ziehen. Sie haben ein altes Herrenhaus gekauft, wollen sich als Biobauern selbst versorgen.  

Während die Neuankömmlinge anfangs von den wenigen Dorfbewohnern eher misstrauisch beäugt werden, schließt Ben schnell Freundschaft mit ihnen. Zum einen findet er Freya, die Tochter von Reinhold und Uta nicht nur hübsch, sondern auch nett. Zum anderen liest Reinhold offenbar genauso gern wie er. Der Witwer Hartmut kommt ihm zwar etwas seltsam vor und seine Zwillinge Konrad und Gunther sind auch etwas gewöhnungsbedürftig. Doch während Ben sich bei seinen Verwandten eher unwillkommen und lästig vorkommt, fühlt er sich bei den Neuen im Dorf an- und vor allem ernst genommen.  

Vielleicht hört und sieht er deshalb nur selektiv, was die so von sich geben. Im Herrenhaus ist zwar ständig die Rede von der Globalisierung und ihren Folgen für das deutsche Volk, dem Verfall deutscher Werte und Vergessen deutscher Tugenden, doch Uta kümmert sich mütterlich um Ben. Die Zwillinge Konrad und Gunther, nur unwesentlich älter als Ben, interessieren sich zwar extrem für Waffen, prophezeien das Ende des Staates, einen kommenden Krieg, eine Revolution. Aber sie beschützen ihn auch und sorgen mit ihren Aktionen dafür, dass die zuvor immerwährende Langeweile und Trostlosigkeit durchbrochen wird. Dass die vermeintlich vernünftigen Aussagen im Bezug auf Ausländer, Kriminelle oder auch Politiker sehr einseitig sind, verdrängt Ben großzügig, weil er es sich mit seinen neuen Freunden nicht verscherzen möchte. Immerhin vertreten sie doch auch Werte, die den meisten Leuten, die Ben kennt, völlig abhandengekommen sind. Auch ihm selbst, wenn er ehrlich zu sich ist. Dazu gehört unter anderem Nachbarschaftshilfe. Familie wird groß geschrieben. Die Neuen nehmen nicht nur ihn herzlich auf, sie sorgen auch im Dorf für frischen Wind. Sie kümmern sich um andere, organisieren die Reinigung und Restauration eines Gemeinschaftshauses, gründen eine Tanzgruppe, unterrichten die Frauen in alten Handarbeitstechniken, die Männer im alten Handwerk. 

Dass der frische Wind einen überaus fauligen Geruch in sich trägt, wird Ben erst so richtig bewusst, als er bereits viel zu tief in Dinge verstrickt ist, die sich zunehmend verselbstständigen. Und auch das gesamte Dorf scheint sich gegen den braunen Sog nicht wehren zu können, gründet mit den Herrenhausbewohnern eine Bürgerwehr und macht Jagd auf angebliche polnische Diebe. Georg, der Einzige, der laut seine Kritik an den Herrenhausbewohnern und allen Vorkommnissen äußert, wird ausgegrenzt und mit Lügen kaltgestellt. Alle fühlen sich dank Reinhold und seinen Herrenhausmitbewohnern stärker und sicherer. Das eine oder andere stößt ihnen zwar etwas sauer auf, doch warum etwas unternehmen, immerhin passiert ja nichts Schlimmes.  

Wie sehr sie sich damit irren, muss Ben eines Tages beobachten. Erst dadurch wird er wach. Doch an wen soll er sich jetzt noch wenden? Wer soll ihm glauben, was er beobachtet hat? Er flieht und die, die ihn anfangs herzlich in ihrer Mitte aufnahmen, jagen ihn gnadenlos. 

Das alles erfahren die LeserInnen aus der Sicht von Ben selbst. Er erzählt die Geschichte. In neun, mit passenden Überschriften versehenen Kapiteln, lässt er uns jeweils vorab an seinen Gedanken, seiner Angst teilnehmen, die er während seiner Flucht fühlt. Anschließend lässt er in jeweils mehreren Unterkapiteln eine ausführlichere, chronologische Schilderung der Geschehnisse folgen, die zu eben dieser Flucht führten. Auch die letztendlich daraus resultierenden Nachwehen lässt er nicht außen vor.  

Das langsame Begreifen Bens, aber auch der Dorfbewohner, ist von Höra überaus nachvollziehbar dargestellt. Wer keine Perspektiven zu haben scheint, wünscht sich irgendwo dazuzugehören. Wer in unserer Leistungsgesellschaft keine Bestätigung bekommt – und nicht nur den Arbeitslosen in Bütenow fehlt genau die – sucht sie sich anderswo. Wer gnadenlos im täglichen, persönlichen Hamsterrad steckt, will sich nicht permanent auch noch mit vermeintlichen Pseudoproblemen beschäftigen. Und obwohl man durchaus versteht, wie empfänglich (nicht nur) Ben für die rechte Verführung sein muss, möchte man ihn von dort wegziehen, an die Stirn fassen, ihn angesichts seiner Blindheit anschreien. Dass die Erwachsenen ebenso leichtgläubig und blauäugig reagieren, nicht merken, wie tatsächlich lebenswerte Ansätze pervertiert und sie selbst manipuliert werden, erschüttert. 

Undenkbar, dass man selbst in so eine oder eine vergleichbare Situation kommen könnte! Wirklich? Ist man selbst so stark, dass man den Mund aufmacht, wenn das Umfeld begeistert mitmacht? Kann man den Unterschied zwischen einer an sich guten Grundidee und der pervertierten Fortführung dieser Idee wirklich immer gleich erkennen? Merkt man immer gleich, wenn man manipuliert wird? 

Gleich anfangs nimmt Geschichte gefangen. Und mit jeder Seite, die ich las, wuchs mein Unbehagen, steigerte sich mein Entsetzen. Nicht nur wegen dem, was Höra so nachdrücklich schildert, auch weil Erinnerungen an Erlebnisse wach wurden, die ich selbst an der Seite von ausländischen Freunden erleben musste. Sei es die mit „Ausländer raus“ beschmierte Hauswand, sei es eine Hetzjagd durch die Schorndorfer Innenstadt oder entlang der Neckartalstraße von Bad Cannstatt nach Stuttgart-Münster. Das Einzige, was meine Freunde gemacht hatten, war dort zu wohnen oder entlangzugehen, einen ausländischen Namen zu tragen (der an der Klingel zu lesen war) oder südländisch auszusehen. Einmal wurde eine Scheibe meiner Wohnung eingeworfen, weil ich die Polizei gerufen hatte, nachdem ich zufällig mitbekommen habe, wie einige Rechte eine junge Ausländerin bedrängten. Bei all diesen Gelegenheiten bin ich glimpflich davon gekommen, das unangenehme Gefühl und die Erinnerung an diejenigen, die damals weggesehen haben, habe ich jedoch bis heute nicht vergessen.  

Genau wie das unangenehme Gefühl, das aus dem Wissen resultiert, wer alles ganz im Allgemeinen rechtes Gedankengut für gut oder ganz akzeptabel befindet. Von außen sieht man diesen Leuten das nicht an. Egal, ob es die nette ältere Dame aus der Straße, die freundliche Angestellte der Krankenkasse, der engagierte Lehrer, der hilfsbereite Rechtsanwalt, der coole Automechaniker oder der kumpelhafte Arbeitskollege ist. Das wurde erst bei einigen ausführlicheren Unterhaltungen oder auch einem Blick auf Musik-CDs oder Büchersammlungen klar. Ich habe damals in keinem rechtsradikalen Brennpunkt gelebt. Es war eine Gegend, die durchaus über ein funktionierendes Gemeinwesen und Perspektiven verfügt. Tatsächlich bin ich trotz meiner negativen Erfahrungen weniger gewaltbereiten Skins als braun denkenden Normalos begegnet. Und noch mehr Leuten, die sahen und wegsahen – sei es (verständlicherweise) aus Angst oder weil sie dachten, dass das alles ja nicht so schlimm sein kann und weil ja vielleicht etwas Wahres an den Ansichten dran sein könnte.  

Auf welch fruchtbaren Boden bestimmte Ansichten fallen können, wenn sowohl das funktionierende Gemeinwesen wie auch Zukunftsperspektiven fehlen, zeigt Höra in seinem Roman Braune Erde. Es muss nicht zwangsläufig so laufen, dennoch besteht diese Gefahr sehr real. Nicht nur in Bütenow. Der Autor hebt nicht besserwisserisch den Zeigefinger. Dennoch stößt er LeserInnen mit der Nase darauf, wie wichtig Hinsehen ist. Dass man sich der Thematik stellen muss, wenn man nicht will, dass man selbst oder jemand der einem nahe steht in eine vergleichbare Situation abrutscht. Ob man es dann verhindern kann, steht auf einem anderen Blatt. Doch es ist wichtig, kritisch zu sein gegenüber einem Phänomen, das bedauerlicherweise nicht auf ein einzelnes Land beschränkt ist. Paradoxerweise arbeiten Rechtsradikale auch Nationen übergreifend zusammen, wenn sie gemeinsame Opfer auserkoren haben. Sei es, weil sie einer Minderheit angehören, die sie bekämpfen wollen. Oder weil sie einfach manipulierbar sind und quasi zu Werkzeugen einer perfiden Ideologie umfunktioniert werden können.  

Fazit: Ein empfehlens- und lesenswerter, erschütternder und bedrückender Roman, der am Ende trotz der Thematik einen kleinen Hoffnungsschimmer erkennen lässt und dem ich fünf von fünf Punkten geben möchte.  

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

6. November 2012

Schröder, Rainer M.: Liberty 9 – Sicherheitszone

Filed under: Abenteuer,Belletristik,Dystopie/Endzeit,Jugendbuch — Ati @ 14:55

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Verlag cbj
ISBN13: 9783570154649
ISBN10: 3570154645
Fantasy, Jugendbuch ab 12. Jahre/All Age
1. Auflage 08/2012
Hardcover mit Schutzumschlag, 496 Seiten
[D] 18,99 €

Verlagsseite

Autorenseite 

Die Biografie von Rainer M. Schröder, Verfasser des vor mir liegenden Romans ist bewegt und umfangreich. 1951 in Rostock geboren und Ostberlin aufgewachsen, konnte Schröder mit seiner Familie noch vor dem Mauerbau in den Westen flüchten. Er durchlief eine Operngesangsausbildung, war bei der Luftwaffe und Lokalreporter einer Tageszeitung. Doch damit nicht genug. Bevor er als freier Autor tätig wurde, studierte er Jura und nebenbei noch Theater-, Film und Fernsehwissenschaften und arbeitete als Theaterautor und Verlagslektor. Schröder zog in die USA und nach einer Hobbyfarmer-Episode in die Welt. Nordamerika, Südamerika, Australien, Afrika. Da er in Europa geboren und aufgewachsen ist, fehlen ihm einzig die Antarktis und Asien, um sagen zu können, dass er alle Kontinente der Welt bereist hat. Er betätigte sich als Schatzsucher unter Wasser, arbeitete in einer Goldmine, zog durch Wüsten und Savannen und überstand auch mehr als einen Wintersturm auf den Meeren oder paddelte mit Indios über den Amazonas. Seine Erlebnisse und Erfahrungen hat er in zahlreichen Büchern teils unter Pseudonym (Ashley Carrington) verarbeitet. Schröders Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Er zählt zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern im Bereich Jugendbuch und historischer Roman. 

Spätestens nach einem Blick auf seine Homepage, von der die vorgenannten Informationen stammen, war ich neugierig auf seinen bei cbj erschienenen Roman Liberty 9. Nicht nur weil ich immer auf der Suche nach Büchern bin, die ich getrost lesewilligen Nichten und Neffen oder den Kindern von Bekannten und Freunden empfehlen kann, auch weil mich die Inhaltsangabe auf der Verlagsseite angesprochen hat.  

Entsprechend enthusiastisch entfernte ich die Verkaufsfolie des Buches, öffnete es und begann zu lesen. Nebenbei erwähnt, auch die Gestaltung des Schutzumschlages sprach mich an (ich mag Blautöne und nicht nur der Titel ist in Blau-metallic gedruckt, auch die abgebildeten Augen sind blau, ebenso wie Teile des Hintergrunds, die einen Wald darstellen).  

Die Geschichte wird größtenteils in dritter Person aus der Sicht der Hauptfigur Kendira erzählt, drei Passagen auch aus der eines Aufsehers (im Buch Konventobere genannt). Sie erstreckt sich über einen relativ kurzen Zeitraum von Tagen, allenfalls jedoch wenigen Wochen. Liberty 9 ist nicht nur der Titel des Romans, es ist auch die Bezeichnung des Habitats, in dem sich das Leben der Auserwählten Kendira abspielt. Ihres und das von zweihundert anderen Auserwählten. Daneben gibt es noch etliche Servanten, die ihnen dienen, Konventobere, die sie ausbilden, oder Guardians, die sie gegen die (bösen) Nightraider verteidigen. Bis auf die Nightraider sind alle Libertianer, doch nur die Auserwählten werden jahrelang auf ihren Dienst im Lichttempel vorbereitet. Der befindet sich außerhalb von Liberty 9 und ist nur mittels eines Lichtschiffs erreichbar. Liberty 9 ist eine Sicherheitszone in einer Welt, die der unseren ähnelt und doch anders ist. Naturkatastrophen und Kriege haben dafür gesorgt, dass es nur wenige Habitate gibt, in denen sich das Leben lohnt. Daneben gibt es noch die Dunkelwelt. Einen wenig erstrebenswerten Ort, wenn man den Konventoberen Glauben schenkt. Kontrolle, Disziplin und das Training auf ihre künftige Aufgabe beherrschen den Alltag der Auserwählten.  

Strenge Strafen stehen auf Verstöße gegen die Ordnung. Das Schlimmste, was passieren kann, sind neben einer Hinrichtung sogenannte Cleansings. Die führen in der Regel zu einer völligen Auslöschung des logischen Denkvermögens, nicht selten jedoch auch zum Tod. Die Strafaktionen werden grundsätzlich vor den Augen aller durchgeführt.  

Liberty 9 muss so um das Jahr 2.100 herum spielen. Es wird zwar von einer neuen Zeitrechnung gesprochen, in der Kendira und die anderen Figuren im Jahr Phönix 59 leben. Allerdings erwähnt Dante, einer der Servanten, den etwa 2.100 Jahre zurückliegenden Beginn des Christentums. So viel verändert hat sich dort aber der Alltag gar nicht. Es gibt noch Tablets und Joysticks, Ego-Shooter-Spiele, Trikes und Schnellfeuergewehre oder Flammenwerfer, Lichtspielereien und Sphärenklänge dank Synthesizern. Die Auserwählten sind Internatsgleich untergebracht. Individualität wird nicht unbedingt gefördert. Auch zum Essen und Trinken gibt es – zumindest für Kendira und die anderen Auserwählten – auch Dinge, die man aus dem hier und jetzt kennt. Pancakes mit Sirup etwa, oder Kakao. Auch der Alkohol spielt noch eine (untergeordnete) Rolle, übt er doch den Reiz des Verbotenen auf die Jugendlichen aus und den des Vergessens auf die Konventoberen. Sogar eine Art Hostie gibt es, wenngleich sie in Form eines high machenden Beneficium während der Lichtmesse etwas pervertiert wird.  

Schröder geht mit Liberty 9 eine Idee an, die so neu nicht ist. Auserwählte in einer Zone, die streng abgeschirmt sind. Außenstehende, die ihnen ans Zeug wollen. Die Tatsache, dass ein goldener Käfig eben auch nur ein Käfig ist. Gegenseitige Bespitzelung, Verrat. Strikte Zensur und Bücherverbrennungen. Junge Menschen, die aufbegehren. Abgesehen von reellen Bezügen zu den nach außen abgeriegelten Ländern des früheren Ostblocks oder bestimmten Sekten wurde diese Thematik schon in zahlreichen anderen Romanen verwendet.  

Kendira hat, bevor sie Dante kennenlernt, keine Zweifel an dem System. Zu gut hat die Gehirnwäsche, der sie von klein auf unterzogen war, funktioniert. Dennoch findet sie (und neben ihr auch einige andere) keinen Gefallen an der öffentlichen Hinrichtung von Nightraidern oder an den ebenso öffentlichen Cleansings – egal ob es sich dabei um Servanten, Auserwählte oder Konventobere handelt.  

Logischerweise will keiner Gefahr laufen, ein solches Cleansing als Hauptakteur zu erleben. Ein Grund für eine solche Strafaktion wäre es, den Verstoß eines anderen nicht zu melden. Genau das jedoch tut Kendira nicht, als sie Dante bei etwas eindeutig Verbotenem erwischt. Dante gelingt es, Zweifel am System in Kendira zu wecken. Bereits nach kurzer Zeit ist sie felsenfest davon überzeugt, dass ihre höhere Berufung tödlich für sie endet. Und nicht nur sie geht das Risiko ein, sich Zweifel zu erlauben. Sie zieht auch weitere Auserwählte auf ihre Seite, von denen einer übrigens ebenfalls sehr an ihr interessiert ist und sie irgendwie auch an ihm. Die Ereignisse überschlagen sich und letztlich wagt sie an der Seite von Dante und drei weiteren Auserwählten einen Ausbruchsversuch aus Liberty 9. 

Klingt gut, nicht? Allerdings gibt es den einen oder anderen Punkt, der das Lesevergnügen schmälert; den Spannungsbogen gar eher einer schlaff herunterhängenden Wäscheleine ähneln lässt. Ansonsten wären mir die untypisch häufigen Schreibfehler sicher nicht aufgefallen, die ich im Buch gefunden habe. Von kleineren logischen Denkfehlern ganz zu schweigen. 

Da wären zunächst einmal die Figuren. Die Auserwählten ähneln in meinen Augen trotz ihrer Erhabenheit eher verwöhnten und zickigen Teenies von heute, zeichnet doch der Autor eine recht … sagen wir mal gewöhnliche Figurenvielfalt. Die Unsympathischen unter ihnen sind meist etwas dicklich, weniger erfolgreich oder haben etwa eine feuchte Aussprache. Die sympathischeren Figuren sind dagegen gut aussehend, schlagfertig, erfolgreich. Kendira selbst zeigt sich angesichts ihrer angeblichen Zweifel immer wieder erstaunlich oberflächlich. Die aufkeimende Angst vor ihrem scheinbar unausweichlichen Ende wirkt so wenig glaubwürdig. 

Allein gemeinsam ist jedoch, dass sie samt und sonders recht unscheinbar sind und vor der Beschreibungsfreude des Autors an ihrem Umfeld verblassen. Überaus erschöpfend ergeht Schröder sich nicht ausschließlich in der detailreichen Schilderung ihrer Gewänder, der Einrichtungen und der Umgebung. Neben der stetig wiederkehrenden metergenauen Angabe bestimmter Dinge führt er auch bestimmte Rituale und die dabei vorgetragene Litanei der Sprechchöre oder beispielsweise auch den Ablauf der Trainingseinheiten sehr erschöpfend aus. Und LeserInnen, die sich bis jetzt noch nicht so genau mit Jesus Christus und seinem Tod auskannten, werden nach der Lektüre von Schröders Roman etwas schlauer sein. Warum? Weil die Bibel zum sogenannten Seelengift gehört, das dem Konstrukt der Erhabenen Macht gefährlich werden könnte, sollte es denn Auserwählten oder Servanten in die Hände fallen. Sie steht seltsamerweise übrigens anscheinend auf gleicher Stufe wie etwa der Graf von Monte Christo. Ansonsten trägt allerdings dieser gedankliche Abstecher in die Grundzüge des Christentums eher zur Verwirrung bei, bringt er den Roman doch nicht wirklich weiter. Insgesamt wäre es praktischer gewesen, einzelne Begriffe in einem Anhang kurz zu erklären, da die Erklärung innerhalb der Geschichte einfach zu langatmig ist. 

Manchmal retten gute Dialoge etwas, doch bei Liberty 9 gehen sie leider angesichts aller Beschreibungen vollkommen unter. Was gesagt wird, wirkt stellenweise hölzern. Ebenso das, was gedacht wird. Einzig Nekia, eine der Auserwählten, sticht mit ihrer Wortwahl etwas daraus hervor. Allerdings – und das möchte ich positiv herausstellen – gibt es einen ganz klaren Vorteil. In manchen Büchern wird bei Dialogen auf Fäkalsprache zurückgegriffen, als wäre das heute die einzig sinnvolle und vor allem mögliche Art, sich zu unterhalten. Davon wird man in Liberty 9 jedoch dankenswerterweise verschont.  

Was in meinen Augen unglücklicherweise ebenfalls unterging, war die Weiterführung einer an sich guten Grundidee. Recht klar beschrieben hat Schröder die harten Strafen für Zuwiderhandlungen, die querbeet alle betrafen. Weniger klar wird dargestellt, warum einigen Servanten und später auch Auserwählten Zweifel am System kommen, beziehungsweise wie diese Zweifel sich erhärten. Es wird das eine oder andere erwähnt, aber das war es auch schon. Man erfährt nicht, wie Liberty 9 überhaupt erst entstanden ist. Warum und weshalb werden die Auserwählten in sogenannten Embrolabs herangezogen, in der Lichtburg erzogen und trainiert, von Servanten bedient? Wie werden sie auserwählt? Warum leben sie in einer Sicherheitszone? Es werden zwar Kriege und Naturkatastrophen erwähnt, doch wirklich darauf eingegangen wird nicht. Auch der künftige Dienst der Auserwählten ist Mysterium. Nicht nur für die Servanten und Auserwählten, auch für LeserInnen. Die paar Andeutungen gegen Ende des Buches – teils von einem zweifelnden Konventoberen, der aus seinem bisherigen Tun die Konsequenzen ziehen will, teils von Nightraidern, deren Motivation im Übrigen auch etwas konstruiert scheint – deuten darauf hin, dass der Autor genauso im Dunkeln tappt. Vor allem rechtfertigt keine dieser Andeutungen den Aufwand, mit dem die Auserwählten jahrelang „ausgebildet“ werden.

Laut Pressemappe handelt es um Social Fiction, bei der die Technik zwar noch Lichtjahre von regulärer Science-Fiction entfernt ist, jedoch eine „buchstäblich blendende“ Rolle in dem Roman spielt. Dem kann ich nur zustimmen. Etwas anderem jedoch nicht. Man erfährt aus der Pressemappe auch, dass es sich bei Liberty 9 um einen dramatischen Action-Thriller handelt, der von einem Meister der Spannungsliteratur erzählt wird. Die Grundidee mag spannend sein, tatsächlich wirkt Liberty 9 aber wie ein mühsames Konstrukt auf mich, das Fragen aufwirft aber kaum Antworten findet. Ebenso sollen Liebe und Freundschaft ein zentrales Thema sein, sowohl den Kern als auch das Gewebe bilden, welches die Geschichte zusammenhält und weiterbringt. Das kam so nicht bei mir an, da beides an sich zu wenig ausgeführt wird. Die Liebe und Freundschaft, die im Klappentext erwähnte unwiderstehliche Anziehungskraft – all das scheint lediglich auf dem guten Aussehen Kendiras, Carsons (der interessierte Auserwählte) und Dantes zu fußen.  

Fazit: Irgendwo habe ich gelesen, dass es sich um den Auftakt einer Trilogie handeln soll. Das würde die offenen Fragen erklären, die Andeutungen, die im Sande verlaufen und diese wie vergessene Handlungsfäden wirken lassen. Bedauerlicherweise habe ich jedoch weder in der Pressemappe noch auf der Verlags- oder Autorenseite und schon gar nicht irgendwo im Buch oder auf dem Buchumschlag einen Hinweis gefunden, der bestätigt, dass es sich hier um einen Auftaktroman handelt. Alles in allem möchte ich Liberty 9 nur einen von fünf Punkten geben, da ich den Roman weder sonderlich spannend noch eindrucksvoll, die Charaktere viel zu schwach und die Geschichte insgesamt zu konstruiert empfunden und von einem Autor wie Schröder einfach mehr erwartet habe.

Copyright © 2011 by Antje Jürgens (AJ)

Nachtrag: Wie ich zwischenzeitlich erfahren habe, handelt es sich bei Liberty 9 um keine Trilogie. In der Frühjahrsvorschau 2013 habe ich jedoch den Folgeband gefunden.

4. November 2012

Gartside, Mark: Zwei und Zwei

Filed under: Belletristik,Roman — Ati @ 14:06

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Droemer Verlag
Originaltitel: What will survive aus dem Englischen übersetzt von Angelika Naujokat
ISBN 13: 9783426199367
ISBN 10: 342619936X
Belletristik, Familiengeschichte
1. Auflage 09/2012
Hardcover mit Schutzumschlag, 448 Seiten
[D] 19,99 €

Verlagsseite  

Viel findet man nicht, wenn man sich hierzulande auf die Suche nach Informationen über Mark Gartside macht. Sein Autorenblog wird gerade erst aufgebaut. Laut Verlagsseite ist Gartside verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mal in den USA, mal in seiner Geburtsheimat England. Dort, wo er in den 1970ern aufwuchs, spielt auch sein Debütroman Zwei und Zwei – in Warrington/Nordengland. Und auch seine Hauptfigur dürfte in seinem Alter sein.  

Es gibt den Spruch, dass das Leben die schönsten Geschichten schreibt. Eigene Erfahrungen werden den einen oder anderen an dieser Stelle denken lassen, dass schön relativ ist. Dass das nicht stimmt, weil das Leben ungerecht ist.  

Mark Gartside verwendet in seinem Debüt keine fantastischen Elemente. Er bemüht auch keine blutig-konstruierten Verbrechen, schockierende Horrorszenen oder reiht aufregende Sexszenen aneinander. Stattdessen verfasste er eine Geschichte, die auch das Leben geschrieben haben könnte. Berührend, erschütternd und aufwühlend ist sie jedoch allemal. 

Seine, Zwei und Zwei erzählende Hauptfigur Graham, hat das Glück, der Liebe seines Lebens bereits als Teenager zu begegnen. Jahre später bekommen sie einen Sohn, wollen heiraten. Dann allerdings wird Charlotte viel zu früh und vollkommen überraschend aus dem Leben gerissen. Graham trinkt danach zu viel, droht völlig abzustürzen und dadurch auch noch den kleinen Michael zu verlieren. Doch er schafft es, sich zu fangen. Michael wird älter, kommt in die Pubertät und bringt seine erste Freundin mit nach Hause. Gleichzeitig bemüht er sich darum, seinem Vater eine Freundin zu verschaffen. Was ihm mit List und Tücke auch gelingt, obwohl Graham eigentlich längst schon mit dem Kapitel Partnerschaft abgeschlossen hat. Zu verbunden fühlt er sich nach wie vor seiner verstorbenen Frau. Doch das Leben meint es gut mit Graham, findet er doch mit Pippa eine zweite Liebe. Allerdings muss er bald darauf erneut erleben, dass Glück überaus zerbrechlich ist. Das Schicksal droht ihm nicht nur Pippa, sondern auch Michael ein zweites Mal zu entreißen. Und er muss noch weitere Verluste hinnehmen.  

Klingt ein wenig melodramatisch? Keine Sorge. Dramatik findet man in Zwei und Zwei – Melodramatik jedoch nicht. Der Autor webt zwei Erzählstränge. Der eine umfasst die Zeit ab 2009, der andere den Zeitraum von 1985 bis 1999 bzw. mit einem großen Sprung noch bis 2008. Abwechselnd lässt Gartside seine LeserInnen einen Blick auf die jüngere und ältere Vergangenheit Grahams und Michaels werfen, bis sich die beiden Stränge dann gleichermaßen harmonisch wie dramatisch im 28. Kapitel im Jahr 2010 vereinen.  

Durchweg alle Kapitel lesen sich sehr angenehm. Der flüssige, plakative Schreibstil lässt die Handlungsorte authentisch wirken. An denen geht es um Liebe und Freude. Um Träume und Wünsche. Um Trauer und Verzweiflung. Um Versagen und Schwächen. Um Familie und Freundschaft. Um Hilfe und die Fähigkeit Hilfe anzunehmen. Der Humor kommt darüber ebenfalls nicht zu kurz. Nicht nur durch Grahams teils selbstironische Gedanken und den Passagen, die die glückliche Seite von Grahams und Michaels Leben beleuchten. Nicht nur, aber noch immer heben sich automatisch meine Mundwinkel, wenn ich an Michaels Dating-Aktion oder an Tommys Truthahneinkauf denke.  

Emphatisch lässt der Autor seine LeserInnen einen unverstellten Blick in das Empfindungsleben eines Menschen werfen, der die ganze Bandbreite an Gefühlen erleben darf aber auch muss. Dabei lässt Gartside unschöne Dinge, wie Alkoholismus, Gewalt und die Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation ebenfalls nicht außer Acht. Die Art und Weise, wie er ohne Beschönigungen die hilflose Seite Grahams darstellt, sorgt dafür, dass man sich gut in ihn hineinversetzen kann. Genau wie in alle anderen Figuren, egal ob es sich um Charlotte oder Pippa, Grahams Schwager Richard oder seine Eltern und Schwiegereltern, um Michael, dessen Freundin Carly, deren Vater Billy oder Grahams Freund Tommy handelt. Sie alle machen Fehler und haben Schwächen. Demgegenüber stehen jedoch ihre liebenswerten, hilfsbereiten und starken Seiten. Sie alle sind nicht perfekt. Nicht jeder durchweg sympathisch. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie lebensnah und echt wirken.  

Der mattgriffig bedruckte Schutzumschlag zeigt übrigens einen Strand, an dem zwei im Gegenlicht dargestellte Personen laufen. Vater und Sohn. Dieses Bild spiegelt die Einsamkeit, die Graham über lange Zeit begleitet, treffend wieder. Der Orangeton, indem sowohl die Wolken als auch der Strand verwaschen übermalt, passt sowohl auf die Hilflosigkeit wie auch auf Kraft, die Gartsides Figuren innewohnt. Genauso lässt der blau angedeutete Himmel, trotz aller Wolken, auf Hoffnung schließen.

Fazit: Die schönsten Geschichten schreibt das Leben? Darüber muss man, glaube ich, nicht streiten. Ebenso wenig darüber, dass es wohl auch die berührendsten Geschichten schreibt. Genau wie Gartside, denn Zwei und Zwei ist wie gesagt einer der Romane, der mitten aus dem Leben stammen könnte. In denen unsere Nachbarn, Freunde oder wir selbst eine Rolle spielen könnten. Einer der Romane, die ohne große Crash-Boom-Bang- oder Gruseleffekte unter die Haut gehen, weil das, was darin passiert, jedem von uns widerfahren könnte. Keinesfalls nur, aber doch auch Sparks-LeserInnen dürften an Gartsides Roman Gefallen finden. Ein wundervolles Buch für jüngere und ältere Leser. Ich möchte für Zwei und Zwei fünf von fünf Punkten vergeben, ist es doch ein gelungenes leises, nachdenkliches, gleichermaßen tragisches wie hoffnungsmachendes Debüt. Denn egal, was uns auch geschieht, laut der Seite 265 erwähnten Ringgravur König Salomons sollten wir nie vergessen: Auch das wird vorübergehen …  

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

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