Die Leselustige Ati's Rezi-Seite – Buchbesprechungen, Ankündigungen, etc.

2. Dezember 2012

Schophaus, Michael: Im Himmel warten Bäume auf dich

Filed under: Erfahrungen/Biografien,Tod/Trauer — Ati @ 18:40

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Goldmann
ISBN-13: 9783442151486
ISBN-10: 3442151481
Biografien, Erinnerungen
Vollständige Taschenbuchausgabe 03/2002
Taschenbuch, 184 Seiten
[D] 8,00 €

Anlässlich des kürzlich besprochenen Buches Mama, ich hab Krebs fiel mir wieder ein Buch ein, das seit einigen Jahren in meinem Besitz ist. Auch darin geht es um den viel zu frühen Tod eines Kindes, auch dieses ist von einem Elternteil geschrieben, das versucht mit dem schmerzhaften Verlust fertig zu werden. Das ist jedoch die einzige Gemeinsamkeit, die diese beiden so ungleichen Bücher haben.

Es gibt Bücher, die vergisst man nicht. Das von Schophaus gehört für mich dazu. Es handelt von Tod und Verlust, von Trauer. So eindringlich, dass man sich beim Lesen und auch noch danach fast an dem kleinen Bettchen sitzen sieht und den Jungen darauf festhalten möchte. Jedes Mal, wenn ich es zur Hand nehme, berührt es mich unendlich. Abgesehen davon verbinde ich für mich damit eine persönliche Geschichte.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der pendelte ich arbeitsbedingt zwischen Stuttgart und Berlin. Da meine Maschine eines Abends (nicht zum ersten oder letzten Mal) überbucht war, wartete ich auf meinen Ersatzflug und investierte den Betrag, den mir die Fluggesellschaft als Ausgleich für den späteren Flug anbot, schon vor Erhalt teilweise in neue Lektüre. Beim Stöbern fiel mir Im Himmel warten Bäume auf dich aus irgendeinem Grund direkt aus dem Regal entgegen. Die kleine Narbe des Schnitts, den ich mir beim Fangen zuzog, sieht man heute noch. Obwohl bereits angesichts des Titelbildes auch ohne Beachtung des Untertitels Die Geschichte eines viel zu kurzen Lebens klar war, dass ich damit nicht wie vorgesehen etwas Lustig-entspannendes erwarb, nahm ich das Buch kurzerhand mit. Obwohl man ihm die Krankheit ansieht, wirkten das Gesicht und die Augen des kleinen Jungen, der kahlköpfig an Schläuchen hängend, auf seinem Bettchen sitzt, ein Eis in der kleinen Hand haltend, zu spitzbübisch, um das Buch einfach wieder ins Regal zu stellen.  

Trotz einiger tatsächlich ebenfalls gekaufter leichter und/oder amüsanter Romane, begann ich es zu lesen, während ich darauf wartete, an Bord meiner Maschine gehen zu dürfen. Neben mir saß ein Mann. Ihm war offenbar langweilig, denn er fragte mich, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn er mitlas. Machte es natürlich nicht. Und da wir im Flugzeug zufälligerweise direkt nebeneinander platziert waren, konnte er auch dort mitlesen. Wir beide schafften es damals nicht, unsere Tränen zurückzuhalten, drohten in einem Wechselbad an Gefühlen zu ertrinken. Das gemeinsam begonnene Buch war der erste Schritt in eine wunderbare Freundschaft. Sie verbindet uns heute, 10 Jahre später, und mittlerweile 1.630 km voneinander getrennt, noch immer.

Was Rainer an diesem Donnerstagabend noch nicht einmal ahnen konnte war, dass bei seiner eigenen Tochter nur fünf Wochen später ebenfalls eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wurde. Rainer hat mir einmal gesagt, dass unsere Freundschaft ihm in der Zeit vor Svenjas Tod und auch danach viel Kraft gegeben hat. Insoweit bin ich unendlich dankbar, dass mir dieses Buch damals einfach so, aus unerfindlichen Gründen entgegen fiel. Auch, weil die nochmalige Lektüre gerade dieses Buches Rainer in der Zeit nach der kleinen Svenja Kraft gab. Kein Wunder, dass auch manche Bestatter es als Trauerliteratur empfehlen. Bedauerlicherweise ist es im Buchhandel seit längerem vergriffen.

Trotz der schrecklichen Krankheit und seinem frühen Tod, den er als Blödmann bezeichnete, wirkt Jakob durch die niedergeschriebenen Erinnerungen von Michael Schophaus lebendig, kindlich kraftvoll. Und obwohl früh klar ist, das Jakob keine Chance auf eine Zukunft hat, ging seine Kraft doch viel zu plötzlich zu Ende. Jakob liebte Bäume, in allen Größen und Formen. Als er ging, blickte er auf einen Weihnachtsbaum und draußen tobte der Sturm.

Obwohl ihn Krankheit und Behandlung aufzehren, animieren diverse Passagen im Buch zum Lächeln. Zwei Jahre durfte Jakob leben, bevor die Diagnose Neuroblastom kam. Danach blieben noch 600 Tage bis zu seinem Tod. 600 Tage an denen Schophaus seinen Sohn begleitete und unterstützte so gut es ging. 600 Tage, die ihn einen Blick in die Hölle werfen ließen. Eine Hölle in der – so Schophaus – kleine, mutige Kinder mit Glatze sitzen und kotzen. Denen er von Herzen den Himmel wünscht, weil sie ihn verdient haben. Wer einmal eine onkologische Kinderstation besucht hat, stimmt ihm da sicherlich ohne zögern zu.

Tagebuchartig lässt Schophaus LeserInnen an dieser Zeit teilnehmen. An den Hoffnungen, die entstehen, wenn Jakob kurzzeitig nach Hause darf. An der Verzweiflung, wenn die Haare ausgehen, neue Tumore auftauchen. Ebenso an dem unerträglichen Krankenhausbetrieb, den Schmerzen, den Behandlungen. Er verbirgt seine Hilflosigkeit, Trauer und Wut nicht, erinnert aber auch an Momente des Glücks. Er lässt LeserInnen seinen Sohn unmittelbar kennenlernen, auch wenn der kleine Jakob physisch nicht mehr unter uns weilt. Dieser bezaubernde kleine tapfere Junge, der sein Leiden in all seiner Kindlichkeit ertragen muss. Der Fragen stellt, Antworten gibt. Der nie die wirkliche Chance hatte, wie andere Kinder Kind zu sein, erwachsen zu werden.

Auch wenn die Familie versucht, so normal wie möglich zu leben, wird doch deutlich, wie viel Kraft Jakobs Leidensweg sie kostet. Dabei wird Schophaus in seinen Erinnerungen nicht melodramatisch. Trotz Wut und Ohnmacht wirkt er nicht verbittert. Dennoch schildert er auch sehr deutlich, wie er sein Umfeld in der Zeit damals erlebte. Krankenhauspersonal, Arbeitskollegen, Freunde. Nicht immer sind die Erfahrungen mit ihnen positiv, was das Empfinden von Jakobs Erkrankung noch schlimmer macht.  

Der 1956 in Bottrop geborene Journalist und Autor Michael Schophaus lebt heute mit seiner Frau und zwei Kindern abwechselnd in Hamburg und bei Köln. Er verfasste unter anderem das Buch Zu jung, um alt zu sein. Die Geschichte einer rätselhaften Krankheit, mit dem Goldmann (laut Wikipedia) im Jahr 2004 das erste Buch weltweit zum Thema Progerie (Vorzeitige Vergreisung im Kindesalter) auf den Markt brachte.

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Im Himmel warten Bäume auf dich ist die reale Geschichte des kleinen Jakob und seinem aussichtslosen Kampf gegen eine unheilbare Krankheit. Eine Geschichte, die an die Nieren geht. Nicht nur, weil Jakob viel zu jung gehen musste. Auch weil Schophaus seine Hilflosigkeit, Wut und  Trauer, aber auch gute Erinnerungen ergreifend umgesetzt hat. Trauer kann man nicht werten – dieses Buch jedoch schon. Es verdient mehr als fünf Punkte und Jakob einen Himmel voller Bäume.

Copyright ©, 2012 Antje Jürgens (AJ)

 

 

25. November 2012

Scherer, Christa: Mama, ich hab Krebs

Filed under: Erfahrungen/Biografien,Tod/Trauer,Tod/Trauer — Ati @ 18:49

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undercover books
ISBN-13: 9783942661379
ISBN-10: 3942661373
Biografien, Erinnerungen
1. Auflage 10/2012
Taschenbuch, 92 Seiten
[D]10,00 €

Verlagsseite 

Einen geliebten Menschen zu verlieren, zählt zum Schlimmsten, was uns im Leben geschehen kann. Heike Gaschler war gerade 30 Jahre alt, als sie nach schwerer Krankheit verstarb. Ihre Mutter Christa Scherer hat im Rahmen ihrer Trauerbewältigung ein Buch über das letzte Lebensjahr ihrer Tochter geschrieben. Der Reinerlös aus dem Buchverkauf kommt der Deutschen Kinderkrebshilfe zugute. Vier Jahre nach dem Tod ihrer Tochter möchte die Autorin den LeserInnen Heike vorstellen, wie sie in ihrem Vorwort anführt. Sie fügt hinzu, dass das Buch aus der Aufarbeitung von Heikes Tagebucheinträgen entstanden ist, die sie durch eigene Berichte und Gedanken ergänzt hat.  

Und so erfährt man in einfachen Worten, dass die junge Frau frisch verheiratet war, mit ihrem Mann Thomas ein Haus baute, bei Kollegen beliebt war, ihre Freizeit aktiv gestaltete und gerne feierte. Ebenso, dass sie ein vielleicht nicht immer perfektes aber doch recht enges Verhältnis zu ihren Eltern hatte. Einige Fotos von Heike wurden in das Buch eingearbeitet.  

Dieses fröhliche, aktive Leben endete im Dezember 2007. Man erfährt von Heikes Beschwerden, die mit an sich harmlosem Magendrücken begannen, zu Magenschmerzen, Entzündungen und einem Geschwür auswuchsen. Bis kurz vor ihrem Tod, wusste die junge Frau nicht, dass sie Krebs hatte, weil sie zu dem relativ kleinen Patientenanteil gehört, bei dem sich maligne Metastasen vor dem Primärtumor bemerkbar machen. Die Überlebenschancen dieser Patienten sind überaus gering, weil in der Regel erst viel zu spät mit der Behandlung begonnen werden kann.  

Nicht nur aus eigener Erfahrung weiß ich, dass eine Krebsdiagnose dazu führt, dass man sich vorkommt, als ob man aus vollem Lauf gegen eine Wand prallt. Dieses Empfinden resultiert oft aus der Art und Weise, wie mit Patienten aber auch Angehörigen umgegangen wird. Die distanzierte, teils kaltschnäuzig wirkende Haltung von Ärzten oder Pflegepersonal kommt auch in Mama, ich hab Krebs zum Ausdruck. Allerdings stehen diese oft genauso hilflos vor ihren Patienten wie die Angehörigen; wollen helfen, können es jedoch nicht. Es entschuldigt zugegebenermaßen nicht alles, erklärt aber vielleicht einiges, wenn man sich vor Augen hält, dass sie tagtäglich mit Krankheit, Tod und oft auch mit ihrer eigenen Hilflosigkeit konfrontiert werden. Darüber hinaus wird in kurzen Einschüben, in denen Heikes Mutter erwähnt, darauf hingewiesen worden zu sein, dass keine Überlebenschance bestand, auch klar, wie schwierig es auch für Angehörige ist, das Offensichtliche zu sehen und umzusetzen. Zu akzeptieren. Mehr als einmal habe ich selbst auf onkologischen Stationen die Erfahrung gemacht, dass das Unfassbare kaum ausgesprochen aus (verständlichem) Selbstschutz beiseite geschoben wird, weil es eben einfach unfassbar ist. Unmöglich. Nicht sein darf. Auf diese Weise wird betroffenen Patienten oft noch das letzte bisschen Lebensqualität genommen, weil bis zum bitteren Ende beispielsweise noch mit Chemotherapie behandelt wird, wird unbegründete Hoffnung geweckt und künstlich am Leben erhalten. 

Wer angesichts des Vorwortes denkt, dass vorwiegend Heike über ihre Tagebucheinträge zu Wort kommt, irrt. Tatsächlich dürften verschiedene Zitate daraus insgesamt etwa eine Seite des Buches füllen. Sie ergänzen die Ende Oktober 2006 ansetzende Erzählung, in der sich vorwiegend Emotionen und Eindrücke von Christa Scherer in Form von Schmerz, Angst, Hilflosigkeit, Wut, Fassungslosigkeit und Verbitterung, aber immer wieder auch der Wunsch zu verdrängen bzw. zu vergessen offenbaren – über die Ursachensuche, die erste niederschmetternde Diagnose am 12. November 2007 und den Tod Heikes sechs Tage vor Weihnachten. Es offenbart sich ein Schuldgefühl dahin gehend, nicht genügend Zeit mit ihrer Tochter verbracht zu haben, die Sache nicht ernst genug genommen zu haben. Bitterkeit über die scheinbare Rücksichtslosigkeit von Heikes Ehemann, aber auch über eine offenbar karrieresüchtige Kollegin. Und wie bereits angesprochen, Wut auf die scheinbar zu spät reagierenden Ärzte.  

Auch dies geschieht in einfachen Worten, teils vagen Andeutungen, teils etwas genauer ausgeführt. Dabei zeigt sich eine Einseitigkeit, die in gewisser Weise, aber nicht nur aus der erzählenden Sichtweise resultiert. Noch viel mehr enthüllt sich jedoch, wie wichtig es für Christa Scherer war, sich ihre Erlebnisse von der Seele zu schreiben. Sowohl die guten Erinnerungen zu konservieren, wie auch die eigentlich unaussprechlichen zu formulieren. Auch um sich daran zu erinnern, dass sie die Chance hatte, die letzten Tage sehr intensiv mit ihrer Tochter zu erleben. Ganz zum Schluss deutet sich auch an, dass sie auf ihrem schmerzlichen Weg der Trauerbewältigung ein Stück vorwärts gekommen ist.

Fazit: Kein erbauliches oder Mut machendes Buch, sondern eins, in dem Schmerz zum Ausdruck kommt über etwas, worauf wir keinen Einfluss haben. Ein Buch, dem ich keine Wertung geben kann, denn Trauer lässt sich nicht werten.

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

20. November 2012

CARLOTTO, MASSIMO: DER FLÜCHTLING

Filed under: Erfahrungen/Biografien,Roman — Ati @ 17:37

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Originaltitel: Il fuggiasco
aus dem Italienischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel
Tropen bei Klett-Cotta
ISBN13: 9783608502053
ISBN10: 360850205X
Autobiografischer Roman
1. Auflage 07/2010
Hardcover mit Schutzumschlag, 184 Seiten
[D] 18,95

Verlagsseite

Autorenseite (italienisch)  

Seine Genre sind Thriller und Krimis in denen es um die Mafia, die korrupte Gesellschaft, bestechliche Politiker, das Militär, um Skandale geht, die einen nicht einfach so kalt lassen können, weil sie zu viele reale Bezüge enthalten. Seit seinem Debütroman Il fuggiasco verfasste er etwa 20 Romane, die übersetzten tragen Titel wie Tödlicher Staub, Wo die Zitronen blühen, Banditenliebe oder auch Die dunkle Unermesslichkeit des Todes

In seinem autobiografischen (Debüt-)Roman erzählt Massimo Carlotto jedoch seine Geschichte, die ihren Anfang 1976 nahm. Damals meldete der linksradikal eingestellte 19jährige Massimo Carlotto den Mord einer Kommilitonin, wurde festgenommen, wegen Mordes angeklagt. Über ein Jahr später wurde er zunächst freigesprochen, dann zu 18 Jahren verurteilt, sein Revisionsantrag 1982 abgelehnt. Carlotto gelang die Flucht, die ihn über Paris nach Mexico führte. Drei Jahre später kam er erneut ins Gefängnis. Bevor seine Begnadigung im Jahr 1993 aufgrund einer Gesetzesänderung aus Mangel an Beweisen erfolgte, musste Carlotto lernen zu überleben. Unter politisch Verfolgten ebenso wie unter Schwerverbrechern. Heute zählt der 1956 in Padua geborene Carlotto zu den erfolgreichsten Krimiautoren Italiens.  

Doch zurück zu Der Flüchtling, der im Original bereits 1994 erschienen ist und dazu beigetragen haben dürfte, dass der Autor nach 17 Jahren im Exil und den Fängen der Justiz auch über die Grenzen Italiens und diverser Organisationen hinaus bekannt ist. Der Roman beginnt nach seiner Abschiebung aus Mexico und der erneuten Festnahme in Italien. Das Buch lag bedauerlicherweise länger auf meinem SuB. Nicht wirklich ungelesen, aber unbesprochen, weshalb ich es am vergangenen Wochenende ein zweites Mal in Angriff nahm. Gleich vorab: Die Wirkung ist die gleiche geblieben. 

Wer erwartet, Genaueres über den Mordfall zu lesen oder denkt, dass Carlotto nur mit der italienischen Justiz abrechnen will, liegt falsch. Stattdessen erfährt man von seinem jahrelangen Untertauchen, der Angst vor Verfolgung, daraus resultierender Panik, Todesangst, schweren gesundheitlichen Folgen.  

Die Flucht und das Untertauchen – beides ist nur durch Helfershelfer möglich und man kann Carlotto einerseits getrost beglückwünschen, dass er darauf zurückgreifen konnte. Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, wohin ich mich im Fall der Fälle so schnell und sicher wenden sollte. In gewisser Weise hatte er auch Glück, weil sich beispielsweise 1985 das internationale Komitee Gerechtigkeit für Massimo Carlotto gründete und in Italien, Frankreich und England aktiv um seine Freilassung bemühte oder ab 1987 auch die Internationale Liga für Menschenrechte für ihn kämpfte, indem sie eine Untersuchung des Falles einleitete und sich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens aussprach. Andererseits half ihm das zwar insgesamt betrachtet, konnte jedoch weder die psychischen noch die physischen Folgen verhindern. Die Jahre, die ihm so genommen wurden, kann ihm niemand zurückgeben, die gemachten Erfahrungen niemand abnehmen.  

Unsentimental, geradezu nüchtern und gleichförmig distanziert berichtet der Autor von diesen Erlebnissen. Dennoch werden Verzweiflung und Verfolgungswahn deutlich, fordern zunehmend Raum. Obwohl er unter falschem Namen mit falscher Identität leben kann und dabei durchaus kein vollkommen isoliertes Dasein in einem abgeschlossenen Raum fristet, befindet sich der Autor doch in keiner Gemeinschaft, fühlt sich alleine. Niemand kann den Druck abfedern, der auf ihm lastet und der plötzlichen Entwurzelung geschuldet ist. Der durch falsche Identitäten ebenso wächst wie durch das Fehlen eines sicheren sozialen Milieus. Da hilft es auch nichts, dass seine Familie ihn finanziell in der Fremde unterstützt. Aus Angst vor Entdeckung führt ihn seine Flucht von Paris nach Mexico. Was in Paris zunächst noch recht gut funktioniert, kann in Mexico nicht gut gehen. Dort wird nicht nur der Kontakt zu seiner Familie zunehmend schwieriger bis unmöglich. Zu katastrophal ist auch das damalige Leben dort. Dennoch überlegt Carlotto, ob er die mexikanische Staatsbürgerschaft annimmt. Dazu braucht er jedoch Hilfe. Er vertraut sich dem Falschen an. Der nimmt ihn nicht nur nach Strich und Faden aus, sondern verrät ihn zudem an die dortigen Behörden. Prompt wird Carlotto nach Italien abgeschoben.  

Paranoia ist ein Gefühl, das entsteht, wenn wir uns verfolgt fühlen. Es ist keine Paranoia mehr, wenn wir denn tatsächlich verfolgt werden und so scheint der Begriff im Bezug auf den Autoren eindeutig falsch gewählt. Doch ohne dass Carlotto etwas davon ahnt, ist der Haftbefehl gegen ihn auf wundersame Weise verloren gegangen. Niemand sucht nach ihm. Und nur, weil er sich nach seiner Abschiebung bei der Ankunft in Italien selbst stellt, wird er wieder fest genommen.  

Es folgen nicht nur für ihn nervenaufreibende Jahre, in denen sein Fall wiederbelebt wird und gleichzeitig unendlich scheint. Carlotto droht zwischen den Mühlrädern der Justiz zerrieben zu werden. Hängt hoffnungslos zwischen Verfahren, Urteilen, Folgeprozessen, Gefängnis und Haftverschonung, ohne dass die Aussicht besteht, dass alles irgendwann einmal ein Ende hat. Ein Gnadengesuch könnte ihm helfen. Allerdings stellt sich die Frage, wie er bereuen soll, was er nicht getan hat. Um es selbst stellen zu können, müsste er jedoch Reue zeigen. All das fordert nicht nur in zunehmenden gesundheitlichen Beschwerden Tribut, sondern lässt auch Suizidgedanken in ihm aufkeimen. Erst ein entsprechendes Gesuch seiner Eltern sorgt letztlich für seine Begnadigung, nachdem die italienische Gerichtsbarkeit auch auf zunehmenden öffentlichen, teils internationalen Druck nicht bereit war, einzulenken.  

In diesem autobiografischen Roman geht es wie eingangs erwähnt, weniger um die juristische Aufarbeitung und Abrechnung mit der Justiz. Die gefühlsmäßigen Folgen der Flucht, des Untertauchens, der elf teils selbst initiierten Prozesse und der Gefängnisaufenthalte stehen im Vordergrund. Zwar wird sehr deutlich, wie die Justiz gegen rechtsstaatliche Denkweisen verstößt. Doch noch viel klarer kristallisieren sich die Folgen aus der eigentlich an sich unspektakulären Tatsache heraus, dass der Autor zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die daraus entstehende alltägliche und sich über viele Jahre hinziehende Tortur füllt die Seiten des 184 Seiten starken Hardcoverbuches sehr nachdrücklich. Bildhaft und erschütternd lässt Carlotto seine LeserInnen daran teilhaben, hebt das Unerträgliche daran gerade durch seinen distanzierten Sprachstil hervor.  

Fazit: Obwohl flüssig geschrieben, lässt sich Der Flüchtling nicht einfach so nebenbei lesen. Dazu erschüttert die Thematik zu sehr. Wer leicht verdauliche Mainstream-Geschichten mag, sollte die Finger von diesem Buch lassen. Was davon der Fantasie des Autors oder der von ihm erlebten Realität geschuldet ist, weiß vermutlich nur er selbst. Mit Der Flüchtling hat er jedoch einen autobiografischen Roman geschaffen, der auch nach Beendigung der Lektüre für ein überaus unangenehmes Gefühl sorgt, den man nicht so einfach vergisst. Deshalb möchte ich dem Roman fünf von fünf Punkten geben.  

Copyright ©2012, Antje Jürgens (AJ)

 

11. Juli 2012

Mara Schwarz: Magersucht ist kein Zuckerschlecken

Filed under: Erfahrungen/Biografien — Ati @ 18:23

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Mara Schwarz – Magersucht ist kein Zuckerschlecken (M)eine Autobiografie

Periplaneta Verlag, Edition Blickpunkt
ISBN: 9783940767912
ISBN: 3940767913
Autobiografie
1. Auflage Mai 2012
Softcover, 232 Seiten
[D] Preis 13,90 €
Erscheinungsdatum Mai 2012


Verlagsseite

Autorenseite 

 

Unter dem Pseudonym Mara Schwarz erschien im Mai dieses Jahres das Buch Magersucht ist kein Zuckerschlecken. Das weiß man nicht erst, seit man Bilder der Französin Isabelle Caro gesehen hat, die frisch aus der Klinik entlassen und gerade mal 30 Kilogramm schwer für den italienischen Fotografen Oliviero Toscani posierte. Obwohl sie damit nach eigenen Angaben auf die Krankheit aufmerksam machen wollte, wurde sie gleichzeitig zum Symbol eines Körperfett als fehlende Willensstärke herabsetzenden Schönheitsideals. Ihre Sucht führte 20120 zum Tod. Doch allgemein betrachtet wird dieses Wissen gemeinhin ignoriert.

 

Magersucht ist kein Zuckerschlecken – Der Titel ist quasi Programm. Denn Zuckerschlecken ist etwas, das mit Genuss zu tun haben könnte. Und Genuss, kleine Belohnungen, kleine Aufmerksamkeiten an sich selbst sind etwas, das Mara Schwarz vermeidet, wo sie nur kann. Von klein auf jemand, der sich viele Gedanken um andere macht und selbst eher zurücksteht als einmal vortritt, rutscht sie als Teenager in die Suchtspirale. Nach zwei – krankheitsbedingt – abgebrochenen Ausbildungen ist sie mit 23 Jahren bereits Rentnerin. Ihr Körper kann, genau wie ihre Seele, nicht mehr.

 

Fast ihr halbes Leben kämpft sie für und gegen etwas, das in unserer Gesellschaft zunehmend Raum fordert und doch weitestgehend stillgeschwiegen wird. Egal ob es sich um Adipositas, Bulimie oder Anorexie handelt – die Allgemeinheit denkt im Hinblick auf krankhafte Essstörungen bedauerlicherweise viel zu oft, dass es doch recht einfach sein müsste, so etwas in den Griff zu bekommen. Fettleibige sollen sich doch eigentlich bitte einfach nur besser beherrschen, Anorektiker müssen doch eigentlich einfach nur essen. Bulimiker hingegen werden eigentlich fast nicht wahrgenommen, weil sie zumindest äußerlich lange nicht auffallen. Immer mehr Mädchen und Frauen, aber auch zunehmend Jungen und Männer leiden darunter. Auch deshalb, weil Essen Bestandteil des täglichen Lebens ist, dem man sich grundsätzlich für eine gesunde Lebensweise nicht entziehen kann. Gründe für diese Störungen gibt es viele, doch die werden meist „in sich hineingefressen“, „ausgekotzt“ oder auch „ausgehungert“. Der Leidensdruck ist enorm und die Chancen, beispielsweise von Magersucht geheilt zu werden, sind gering. Laut Statistik finden nur etwa zwanzig Prozent den Weg aus der Suchtspirale. Fast genau so viele sterben jedoch daran – auch weil die Betroffenen teilweise gar nicht einsehen, wie krank sie sind. Und selbst wenn sie es dann irgendwann erkennen – wie beispielsweise Mara Schwarz – heißt das noch lange nicht, dass sie Heilung finden.

 

In ihrer Autobiografie zeigt die Autorin, dass der Weg zurück in ein halbwegs normales Leben bei Weitem nicht so einfach ist, wie viele denken. Sie leidet selbst an Anorexiea nervosa – der psychisch bedingten Magersucht. Das Buch entstand aus einer Aufarbeitung von Tagebucheinträgen aus der Zeit des bisherigen Höhepunkts ihrer Krankheit. Einer Zeit, in der ihr Zustand mehr als einmal lebensbedrohlich war, in der zur Anorexie ein massives Alkoholproblem kam, in der sie kurz davor war, endgültig zu zerbrechen.

 

Dass es in ihrem Fall nicht einfach daran liegt, dass sie durch zu nachhaltigen Fernsehkonsum ein völlig verqueres Schönheitsideal vermittelt bekommen hat, wird bereits eingangs kurz und klar umrissen. Einer der Auslöser ihrer Magersucht war ein traumatisches Erlebnis, das in ihr den Wunsch geweckt hat, nicht fraulich zu sein, nicht erwachsen zu werden. Im Gegensatz zu den Auslösern ist das etwas, dass sie gewissermaßen kontrollieren kann. Ihr Leben besteht fortan nur noch aus Zwängen und Kämpfen. Aus Bestrafungen und Missachtung ihrer eigenen Person. Lange Zeit denkt sie, wenn sie nur lange genug hungert und bricht, trinkt oder die Anweisungen ihrer Therapeuten und Ärzte missachtet, muss doch jemand kommen und ihr helfen. Obwohl sie quasi alles kontrollieren muss, tut sie alles dafür, dass ihr eben diese Kontrollmöglichkeit genommen wird. Der Großteil des Buches handelt genau davon. Von Zwangsernährung und Aufenthalten in der Psychiatrie. Ob die Suche nach Ursachen tatsächlich größtenteils nicht stattgefunden hat oder von der Autorin lediglich nicht so wahrgenommen wurde, mag dahingestellt sein. Vorwiegend behandelt wurden ihrem Empfinden nach jedenfalls die durch die Magersucht hervorgerufenen Mangelerscheinungen und körperlichen Auswirkungen. Doch durch die eindringliche und offene Schilderung ihrer Geschichte verhilft sie dem Leser zu einem besseren Einblick in das krankhaft veränderte Denken Magersüchtiger. Oder lässt ihn begreifen, wie eigentlich harmlose und/oder gut gemeinte Bemerkungen von Betroffenen wahrgenommen werden. 

 

Das Buch lässt sich trotz der Thematik überraschend leicht lesen. Es zieht einen förmlich hindurch, obwohl diverse Passagen auch innehalten lassen, weil es fast zu viel wird. Es verstört, weil die Lösung  einfach scheint, aber eben tatsächlich nicht einmal andeutungsweise so ist. Es erschüttert, weil es schwer zu ertragen ist, unbegreiflich, dass jemand hungernd den eigenen Tod in Kauf nimmt. Es wühlt auf, weil Mara Schwarz sich nicht allem verschließt, sondern bei aller Verzweiflung und Wut durchaus empathisch die Hilflosigkeit der Behandler fühlt und wiedergibt. Es berührt, wie die Autorin beispielsweise in ihren Gedichten ihr Leiden in Worte fasst.

 

In der teils selbstironischen Schilderung ihrer Krankheit mit Wortspielereien und Gedichten, aber auch in ihren Zeichnungen, offenbart sich die Autorin als Mensch, den man am liebsten in die Arme schließen und trösten und gleichermaßen schütteln und aufrütteln möchte. Sie zeigt sich kreativ und liebenswert, aber auch aggressiv, uneinsichtig und schwach. Sie pocht nicht auf einen Opferstatus. Sie weist nicht anderen die Schuld zu, sondern weiß, dass sie selbst für ihren augenblicklichen Zustand verantwortlich ist. Sie zeigt sich genau wie alle Anorektiker als überaus willensstark im Bezug auf ihre Krankheit und schafft es dennoch irgendwie zu überleben. Und ausgerechnet in dem Augenblick, als sie quasi aufgegeben wird, tritt eine hoffnungsvolle Veränderung in ihrer Denkweise ein. Bei Fertigstellung des Buchprojektes steht sie nach eigenen Angaben mit dem Rücken zum Meer am Strand. Sie weiß, dass die Krankheit wie ein Kraken im Hintergrund lauert. Sie weiß, dass sie nur einen Schritt vom Abgrund beziehungsweise vom Fall ins Wasser und damit in die Arme des Kraken entfernt ist, doch sie hebt auch den Kopf und sieht, dass sie nicht alleine ist. Dass es Hilfe gibt und dass sie doch vor allem selbst um ihr Leben kämpfen muss. Dass sie es wert ist.

 

Beim Lesen der Inhaltsangabe musste ich sofort an eine Schulfreundin denken. Mir ist klar, dass persönliche Dinge niemals in eine Buchbesprechung einfließen sollten. Dennoch ging mir Beate, und ihr Wunsch koste es was es wolle immer noch dünner zu sein, nicht mehr aus dem Kopf, während ich mich Seite um Seite durch die Autobiografie von Mara Schwarz arbeitete. Arbeitete – nicht einfach nur las. Ihr Buch mit dem Titel Magersucht ist kein Zuckerschlecken, mit dem der Verlag periplaneta seine Sachbuch-Edition Blickpunkt startet, ist nicht einfach nur ein Buch zum Zeitvertreib, keine einfache (Lese-)Kost. Es ist ein aufwühlender Einblick in das Gefühlsleben der Autorin. In eine Krankheit, die vielfältige Auslöser hat und die, sofern die Betroffenen keinen Ausweg finden, unaufhaltsam und lebensbedrohlich verläuft. Die in die Isolation führt und – wie bereits eingangs erwähnt – zunehmend um sich greift, weil junge Menschen unter dem Druck (des Lebens) zerbrechen. Ein Buch, das betroffenen Angehörigen und Freunden weiterhelfen kann. Ein Buch, in dem sich vermutlich mehr als ein(e) betroffene(r) Magersüchtige(r) wiedererkennt. Beate hat es bedauerlicherweise nicht geschafft. Doch Mara Schwarz hat diese Chance noch. Ich wünsche der Autorin von ganzem Herzen, dass sie ihrem persönlichen Anorexie-Kraken entkommt.

 

Copyright © 07/2012 by Antje Jürgens (AJ)

22. Oktober 2010

Walden, Veronika: Aufschrei der Seele

Filed under: Erfahrungen/Biografien,Fach- & Sachbuch — Ati @ 16:24

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Veronika Walden

Aufschrei der Seele

 

Medu-Verlag

ISBN 978-3-941955-07-3

Erfahrungen

Originalausgabe 2010

Umschlaggestaltung Daniela Tannebaum (Verlag)

Softcover, 169 Seiten

€ 14,95[D]

 

Zum Buch:

 

Über die Autorin vorweg etwas zu sagen ist unnötig, denn das Buch ist nicht nur von ihr, sondern es handelt auch von der 1946 geborenen und im Norden Deutschlands lebenden Veronika Walden. Genauer gesagt ist es ein Rückblick auf 25 Jahre Krankheit. Eine der Krankheiten, über die man gewöhnlich nicht einfach so laut spricht. Ein Erfahrungsbericht über das Funktionieren einer Frau, die neben Wahnvorstellungen und Depressionen Todessehnsucht verspürte und Wege aus ihrer Krankheit gesucht und teilweise gefunden hat.

 

Waldens Leben könnte Anfang der 1980er Jahre – von außen betrachtet – nicht schöner sein. Verheiratet, eine Tochter, ein schönes Zuhause in ihrer Traumwohnung mit nigelnagelneuer Einbauküche. Gut es gab immer mal wieder finanzielle Engpässe, weshalb sie schon kurz nach der Geburt ihrer Tochter Vanessa eine Arbeit suchen musste, um zum Familienunterhalt beizutragen. Dennoch, eigentlich scheint alles perfekt – und bis zu ihrem 35. Geburtstag hätte sie die Frage nach ihrem Befinden so beantwortet: Ich bin zufrieden mit meinem Leben und es geht mir gut. Ich liebe meinen Mann und meine Tochter über alles. Wir sind eine glückliche Familie.

 

Nur drei Jahre später haben sich massive Versagensängste in ihr Leben geschlichen und körperliche Beschwerden wie Schmerzen und Herzrhythmusstörungen oder Magen-Darm-Probleme dazugesellt. Beschwerden, auf die Ärzte ratlos reagieren, denn körperliche Ursachen liegen nicht vor. Lange Zeit versucht sie ihren Zustand nach außen so gut es geht zu verbergen, nicht ahnend, wie viel ihr persönliches Umfeld tatsächlich davon mitbekommt. Als eine Nachbarin in eine Nervenklinik eingewiesen wird bzw. diese ihr hinterher in ihrer Verzweiflung selbst erzählt, dass sie Mordfantasien gegen Walden hegt, ist plötzlich nichts mehr wie zuvor.

 

Abgesehen davon, dass die Ängste sich immer mehr verdichten – seltsamerweise nicht vor der Nachbarin mit den Mordfantasien – will sie selbst bisweilen am liebsten ihren Mann töten. Etwas, was für sie nicht nur unaussprechlich, sondern eigentlich auch unvorstellbar ist, denn Harmonie geht ihr über alles. Sogar über sich selbst.

 

Walden sucht Hilfe und findet sie auf einigen Umwegen bei einer Psychotherapeutin. Zwar muss sie die Behandlung selbst bezahlen, dafür stimmt die Chemie zwischen Patientin und Therapeutin und viele Erinnerungen und Dinge, die für Walden bislang nicht erkennbar waren, brechen sich ihre Bahn. Ihre Schuldgefühle bezüglich des Selbstmordes ihrer Mutter, nach dem sie wie selbstverständlich als gerade 17jährige die Versorgung ihres Vaters übernimmt, bis dieser wieder heiratet. Ihre Rolle als Hausmädchen und Kindermädchen im Haushalt ihrer Schwester aus der sie übergangslos in die Rolle der Ehefrau und Mutter schlüpft. Ein Mann, der eifersüchtig über sie wacht. Eine Ehe, in der der Mann das Geld heimbringt und seinen Hobbys frönt, während sie neben ihrer Arbeit den Haushalt ebenso wie die Finanzen führt, die Kindererziehung übernimmt und wenig eigene Interessen oder Freunde hat. Eine Ehe, die der ihrer Eltern sehr gleicht. Ihr eigener Hang zum Perfektionismus und zur Harmonie, der sie vieles schlucken lässt, bis es einfach nicht mehr geht und ihre Seele so laut um Hilfe zu rufen beginnt, dass sie es nicht mehr überhören kann.

 

Doch die Therapie ist langwierig und es fällt schwer bis fast unmöglich, ihre eigene Art, sich ständig zu überfordern, zu überwinden. Die Anforderungen, die das Familien- und Arbeitsleben an sie stellt, scheinen nahezu unvereinbar mit der Aufgabe, sich selbst zu finden. Erschwert wird das Ganze durch eine Waldens Krebserkrankung.

 

Der Glaube, diverse Therapien, und ihr eigener Wille zur Veränderung helfen, dennoch muss sie erkennen, dass es ein immerwährender Kampf sein wird und der Rückfall in alte Verhaltensmuster immer wieder passieren kann. Dass Vorwürfe alleine nicht richtig sind, dass ihr eigenes Verhalten die hauptsächliche, gar alleinige Ursache für ihren Zustand ist.

 

Ihre Ehe übersteht diese fast ein viertel Jahrhundert andauernde Belastungsprobe. Allerdings nur mehr oder weniger gut. Ihr Mann und sie driften auseinander, wobei nie eine wirkliche innere Verbundenheit zwischen ihnen bestand. Es fehlt die gemeinsame Sprache, die Themen, die wichtig sind, drohen immer wieder totgeschwiegen zu werden. Ihre zwischenzeitlich erwachsene Tochter heiratet, wird Mutter, und – ohne aktiv viel dagegen tun zu können – scheint sich abzuzeichnen, dass sich ihre Geschichte und die ihrer Mutter wiederholt.

 

Dennoch hat Walden den Mut nicht aufgegeben und kann heute mit ihrer Erkrankung umgehen.

 

Fazit:

 

Walden hat nicht nur den Mut gefunden, Hilfe zu suchen und den schmerzhaften, schwierigen Weg einer Therapie zu gehen. Sie ist darüber hinaus mit ihrer Erkrankung an die Öffentlichkeit gegangen und spricht klar und verständlich alles an. Denn auch wenn sie nicht allein ist, so wird diese Thematik heute noch trotz einiger Veränderungen mehr oder weniger wort- und/oder verständnislos übergangen.

 

Als ich zu lesen begann, kam mir automatisch der Satz „Die Angst ist für die Seele ebenso wichtig wie das Bad für den Körper.“ in den Sinn. Angst kann das Leben umkrempeln. Positiv, wenn man lernt, mit ihr umzugehen. Sie macht auf Dinge aufmerksam, die wir bereinigen müssen. Waldens Buch – in dem im Übrigen überraschenderweise genau der Satz vorkommt – ist ein Beweis, dass es funktioniert. Ein Buch, das auch anderen Mut machen könnte und deshalb empfehlenswert. Ich wünsche der Autorin von ganzem Herzen, dass ihr restlicher Weg sich mehr und mehr ebnet.

 

Copyright © 2010 Antje Jürgens (AJ)

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