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7. August 2012

Levy,_Andrea: Das lange Lied eines Lebens

Filed under: Belletristik,Historisch,Roman — Ati @ 15:03

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Andrea Levy: Das lange Lied eines Lebens

Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt
Originaltitel: The Long Song

aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser

ISBN 9783421044839

ISBN 342104483X

Paperback, 368 Seiten

[D] 19,99 €

Erscheinungstermin 03/2011

 

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Autorenseite

 

Die 1956 in London als Tochter jamaikanischer Einwanderer geborene britische Autorin Andrea Levy saß kulturell betrachtet schon immer zwischen zwei Stühlen. Sie weiß aus ihrer Tätigkeit in einer sozialen Einrichtung, was rassistische Übergriffe sind und wie man sie abwehrt, obwohl sie in ihrer Kindheit selbst wenig damit zu tun hatte. Sie arbeitete bei der BBC, gründete mit ihrem Mann eine Firma für Grafik-Design, studierte kreatives Schreiben und begann – weil es noch Ende der 1980er, Anfang der 1990er in England wenig bis keine schwarze Autoren gab, die sich mit der (nach-)kolonialen Vergangenheit des Vereinigten Königreiches beschäftigten – selbst darüber zu schreiben.

 

In ihrem ersten Roman (Every light in the house burnin‘) verarbeitete sie teilweise eigene Erfahrungen und auch ihre Folgeromane thematisierten schwarze Einwanderer in London, ihre Träume und Probleme, ihre Suche nach Wurzeln und Geschichte. Obwohl es anfangs eher unwahrscheinlich erschien, bekam sie bereits für ihren Debütroman mehrere Auszeichnungen und half mit, multiethnischen Autoren der britischen Gegenwartsliteratur den Weg zu ebnen.

 

Bisher sind zwei ihrer Bücher in deutscher Sprache erschienen. Nach dem 2007 beim Eichborn Verlag veröffentlichten Roman „Die englische Art von Glück“ (der von der BBC verfilmt wurde), brachte im März letzten Jahres die Deutsche Verlags-Anstalt Das lange Lied eines Lebens auf den hiesigen Buchmarkt. Mit ihrem fünften Roman lädt die Autorin ihre Leserschaft nach Jamaika ein. Nicht in das der Gegenwart, sondern in das Ende des 19. Jahrhunderts. In die Zeit ihrer Großeltern also. In eine Zeit, in der Levy sich neben historischer Recherche auch der Fiktion bedienen musste.

 

Das DVA-Cover zeigt einen Frauenkopf im Scherenschnittstil vor einem türkisblauen Hintergrund, einige exotisch anmutende Blüten und einen kleinen Kolibri. Ein einfach gestaltetes Cover also, dass sich mit dem gar nicht einfachen Leben einer einfach gehaltenen Frau beschäftigt.

 

Drei Jahrzehnte nach Abschaffung der Sklaverei durch die englische Königin drängt der Sohn der Hauptfigur July seine Mutter dazu, ihre Geschichte aufzuschreiben. Eigentlich wollte sie sie ihm nur erzählen. Das Verhältnis zwischen den beiden ist nicht das beste. Sie hat ihn als Baby ausgesetzt und möchte sich nun rechtfertigen. Er möchte, dass auch seine Kinder an dieser Geschichte teilhaben können. Offen und vollständig will er alle Geheimnisse und Geschehnisse niedergeschrieben sehen, ohne irgendwelche Ausflüchte zuzulassen. Er regt sich über seine Mutter auf, die sich dagegen sperrt, alles zu offenbaren.

 

Das Buch beginnt mit einem Vorwort des Sohnes, sodann lässt Levy July in erster Person direkt an den Leser gerichtet zu Wort kommen, bedient sich jedoch auch der Erzählung in dritter Person und Vergangenheitsform.  In einfacher, eigentlich kindlicher Sprache webt sie ein Bild eines Systems, in dem sie als Tochter einer von ihrem Besitzer geschändeten Sklavin zur Welt kommt. July gibt vieles preis. Stück für Stück auch ein gut gehütetes Geheimnis im Bezug auf ihren Sohn. Allerdings auf eine Art und Weise, bei der sich nicht nur der Sohn am Ende des Romans in seinem Nachwort fragt, was Fiktion und was Wahrheit ist. Auch der Leser ist sich darüber stellenweise nicht ganz schlüssig.

 

Der gewählte Erzählstil, der leicht und gleichsam gefühllos distanziert wirkt, verstärkt das Erzählte. Er wirkt echt und wie so viele Geschichten, die sich mit Rassismus beschäftigen, erschüttert Julys Rückblick auf ihr Leben auf der Zuckerrohrplantage Amity. Es war umständlich und hart – allein im Hinblick auf den technischen Entwicklungsstand. Doch wirklich erschütternd ist der Blick auf die menschenverachtende Sklaverei. Familien wurden willkürlich, teils lediglich um des Profit willens, auseinander gerissen. Ein Leben zählte so gut wie nichts, denn es ganz ja immer Nachschub. Sklaven hatten in den Augen ihrer Besitzer keine Gefühle, von Rechten natürlich ganz zu schweigen. Die in ihrem Hochmut teils stupide wirkenden Besitzer unterstellten ihnen per se Dummheit, ja sprachen ihnen sogar das Menschsein ab. Das Leben wurde durch die offizielle Abschaffung der Sklaverei in den britischen Hoheitsgebieten nicht leichter. Der blutige Aufstand der Sklaven führte zu ihrer Vertreibung in weniger fruchtbare Gebiete Jamaikas. Die ehemaligen Sklavenhalter bedienten sich nicht aufständischer indischer Tagelöhner und unabhängig davon war da noch die Angst vor einer erneuten Versklavung bei einem Verkauf Jamaikas an das seit 1776 vom Vereinigten Königreich unabhängig erklärte Amerika. Nebenbei bemerkt war da die Sklaverei zwar offiziell schon seit 1865 abgeschafft, durch das Convict-lease-System blieben unzählige ehemalige Sklaven trotzdem mancherorts noch bis ins 20. Jahrhundert hinein in einem Zwangsarbeitssystem verstrickt. Das komm, kurz angemerkt, so natürlich nicht im Roman vor, da er ja aus July’s Sicht erzählt wird.

 

Trotz aller mit dem Sklavendasein verbundenen Negativ-Erfahrungen lässt July in ihrer Geschichte keinesfalls nur Trostlosigkeit und Wut, sondern gleichfalls Freude, Hoffnung und spitzbübisch auch eine gewisse Keckheit erkennen. Sie mag in den Augen ihrer Besitzer keine Intelligenz und Bildung besessen haben, die man aus Büchern lernen kann. Doch sie ist aufmerksam und besitzt die Bildung, die einem das Leben beschert. Manches erscheint so übertrieben, dass sofort klar ist, dass July sich diese Wendung ausgedacht hat; dass der Wunsch auf ein besseres Leben der Vater des Gedanken war. July, die die Sklaverei mit allen Höhen und Tiefen noch erleben musste, bedient sich dabei eines in dieser Zeit antrainierten Verhaltens. Mit ihren Übertreibungen und Verschleierungstaktiken, ihren Lügen und Ausweichmanövern schützt sie sich auch im Nachhinein noch vor Demütigungen, will imponieren oder beschämen.

 

Wie bereits erwähnt, sind all diese an sich aufwühlenden Dinge in gefühlskalten, distanzierten Worten vorgetragen. Anfangs hat mich das etwas gestört. Allerdings ging mir bald darauf auf, dass dies die einzig logische Art ist, so etwas zu erzählen. July und die anderen Sklaven wurden von klein auf mit der Nase darauf gestoßen, nichts wert zu sein. Keine Gefühle und Rechte zu haben. Sie wurden mit unabänderlichen Tatsachen konfrontiert, ohne eine Wahl zu haben. Wer gewöhnt ist, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen, sich einfach umdrehen und gehen zu können, würde vieles sicher anders erzählen. July musste jedoch ihre Gefühle tief in sich verschließen. So tief, dass vielleicht nicht einmal sie selbst sie wiederfand. Nicht nur um sich vor Schmerz und Enttäuschungen zu bewahren, sondern einfach, um in einem solchen unmenschlichen System zu überleben.

 

Bereits als kleines Kind wird July ihrer Mutter weggenommen und im Haus des Plantagenbesitzers als Mädchen für alles angelernt. Sie hat insoweit Glück, dass sie etwas später als persönlichen Dienerin der Schwester des Plantagenbesitzers eingesetzt wird. Durch diese Position erlangt sie eine gewisse Machtstellung, in gewisser Weise sogar über ihre Herrin. Doch Glück ist relativ. Denn auch in einer solchen Situation wurden die Sklaven erniedrigt und drangsaliert, ausgenutzt und missbraucht. Da hilft es auch nicht, dass man sich selbst (July sieht als Mulattin und nicht als Negerin) als etwas besseres (Haussklaven sind mehr wert als Feldsklaven) sieht. Ihre Herrin ist Ich-bezogen und verwöhnt. Melodramatisch meistert sie die Zeit nach dem Tod ihres Bruders (während des Sklavenaufstandes) mit Hilfe von Aufsehern, die kommen und gehen – bis Robert Goodwin erscheint. Der neue Aufseher und July freunden sich an. Doch eine offizielle Beziehung zu einer Farbigen war damals verpönt und so lässt er July, die sich in ihn verliebt hat, fallen sobald sich die Gelegenheit ergibt. July wird selbst Mutter – jenes Sohnes, der sie später dazu überredet, ihr Leben aufzuschreiben.

 

Fazit

 

Das lange Lied eines Lebens ist kein Buch, das man einfach so nebenbei liest. Es ist bedauerlicherweise vermutlich auch keines, das Massen begeistern wird. Zum einen wegen des gewöhnungsbedürftigen distanzierten Schreibstils. Zum anderen, weil es eines der unrühmlichen, unmenschlichen Kapitel der Menschheit beschreibt. Ein Kapitel, das bedauerlicherweise noch nicht in allen Teilen der Welt abgeschlossen ist. Levy hat sich eingehend mit der Thematik beschäftigt und das merkt man. Sie hebt den Finger ohne belehrend zu wirken. Ihr Buch rührt an, ohne pathetisch zu wirken. Es erschüttert und stößt ab. Es stimmt nachdenklich und wühlt auf. Und es lohnt sich, wenn man es zu Ende liest. Das lange Lied eines Lebens bekommt fünf von fünf Punkten von mir.


Copyright © 2012 Antje Jürgens (AJ)

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