Die Leselustige Ati's Rezi-Seite – Buchbesprechungen, Ankündigungen, etc.

17. Dezember 2012

Safier, David: Muh!

Filed under: Belletristik,Jugendbuch,Roman — Ati @ 16:15

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Kindler Verlag
ISBN-13: 9783463406039
ISBN-10: 3463406039
Belletristik
4. Auflage 09/2012
Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 336 Seiten
[D] 16,95 €

Verlagsseite
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Der zur Rowohltgruppe gehörende Kindler Verlag bietet seiner Leserschaft ein breites Spektrum. So findet man im Verlagsprogramm sowohl Literarisches wie auch Humoristisches, spannend oder charmant Erzähltes. Auch fantastische Zeitreisen bleiben nicht außen vor. Mit Muh! nimmt David Safier seine Leserschaft ebenfalls auf eine Reise mit. Allerdings handelt es sich dabei um keine Zeitreise. <!–mehr–>

Der 1966 in Bremen geborene Journalist war zunächst beim Hörfunk und Fernsehen tätig, bevor er ab 1996 erste Arbeiten als Drehbuchautor und Schriftsteller ablieferte. So arbeitete er unter anderem als Hauptautor an Berlin, Berlin mit, wofür er den Adolf-Grimme-Preis erhielt. Sein Buch zur Serie Mein Leben & Ich bescherte ihm den Goldenen Spatz (MDR-Kinder-Film- und Fernsehpreis). In Anlehnung an seinen 2007 erschienen Debütroman Mieses Karma gründete er eine Stiftung. Wer eventuell sein eigenes Karma verbessern und Kindern etwas Gutes tun möchte, sollte sich vielleicht auf der Stiftungsseite www.gutes-karma-stiftung.de umsehen. Dass Safier mit seinem Debütroman kein Onehit-Wonder-Autor geblieben ist, bewies er mit den ebenfalls in Millionen-Auflage verkauften Folgeromanen Plötzlich Shakespeare, Happy Family und dem demnächst ins Kino kommenden Jesus liebt dich. Auch im Ausland finden seine Bücher Anklang.

Doch zurück zu Muh!. Dem voll kuhlen Buch, das gerade vor mir liegt. Mein erster Safier-Roman, dessen Schutzumschlag mich bereits beim ersten Draufschauen trotz eigentlich gar nicht vorhandener Ähnlichkeit an eine bestimmte Sorte Karamellbonbons erinnerte und prompt Appetit auf die Dinger machte. Gut, dass ich keine im Haus hatte. Erstens wäre der Verzehr derselben meinen Hüften nicht gut bekommen und zweitens hätte ich mich womöglich während diverser Schmunzel- und Lachattacken, die mich beim Lesen überkamen, verschluckt.

Für die, die noch nie von Muh! gehört haben: Im Buch geht es um die ostfriesische Kuh Lolle. Etwas zu rund ist sie eigentlich ganz zufrieden mit ihrem Dasein und vor allem tierisch in Champion verliebt, der auf dem gleichen Hof wie sie lebt. Doch dann stürzt Lolles heile, kleine Welt ein. Sie erfährt, dass Champion es mit der Treue nicht allzu ernst nimmt und fast zeitgleich, dass der stets angesäuselte bis betrunkene Bauer alle Kühe schlachten lassen will. Dass sie an diesem Tag den Kater Giacomo vor einem fiesen Höllenhund rettet, erweist sich zumindest als Glücksfall. Denn besagter Kater kennt ein paradiesisches Land, in dem Kühe heilig sind. Obwohl sie bisher davon ausgegangen ist, dass es hinter den Bäumen hinter der Weide nur noch die unendliche Milch der Verdammnis gibt, beschließt Lolle zu fliehen. Schließlich möchte sie nicht zwischen zwei Brötchenhälften enden. Da sie nicht alle ihre Artgenossen zum Mitkommen überreden kann, macht sie sich mit ihrer kleinen Flüchtlingsherde in die große weite Welt auf.

Wer jetzt erfahren möchte, wie fatal das Zusammentreffen von Glühwürmchen und Methan produzierenden Kühen enden kann, was für medizinische Alternativen alte an jüngere Kühe weitergeben, was das Ziehen in Lolles Bauch mit Champion zu tun hat, wie Lolle über die Schöpfungsgeschichte der schöpferischen Gotteskuh Naia und ihre Folgen denkt, oder was Lolle samt ihrer kleinen Herde, dem nicht ganz so ohne Hintergrundgedanken agierenden Giacomo oder dem Höllenhund so alles erlebt, der sollte sich Safiers Buch zu Gemüte führen.

Gleich vorab: Safier hat damit nicht nur ein positives Echo hervorgerufen. Zu bemüht, zu schräg, zu platt, zu unglaubwürdig, schlechter als die Vorgängerromane – all das war in diversen Beurteilungen zu lesen. Ich kann zustimmen, dass Safiers Humor gelinde gesagt schräg ist. Hochgeistige Lektüre sieht ebenfalls anders aus und mir kam auch nicht alles logisch vor. Da ich jedoch nach einem Blick in die Inhaltsangabe und auf das Cover so etwas auch gar nicht erwartet habe, kann ich mich getrost den positiven Stimmen anschließen (die es übrigens weitaus zahlreicher gibt).

Mit skurrilem, tatsächlich irgendwie bekannt vorkommendem Witz stellt Safier seine Hauptcharaktere vor. Trottelig doof und trotzdem liebenswert sind die einen, schnippisch, bissig, zickig und dennoch nicht vollkommen unsympathisch die anderen. Gebildet oder eher naiv dumm, angeberisch, intrigant, untreu, verzweifelt, wagemutig, verliebt, verbittert, unternehmungslustig, ängstlich. Stark vermenschlicht kommen sie alle herüber, doch das stößt nicht ab. Die eine oder andere Szene wirkt allerdings nicht nur durch die Vermenschlichung extrem an den Haaren herbeigezogen und etwas zu kurios überspannt. Was auf der einen Seite niedlich und nett amüsant wirkt, lässt auf der anderen Seite (hoffentlich mehr als eine(n) LeserIn) ein wenig die eigenen Ernährungsgewohnheiten und die Ignoranz der damit allgemein verbundenen Bedingungen der Tierhaltung überdenken. Dieser Aspekt ist allerdings so spielerisch leicht mit der Geschichte verwoben, dass man hier nicht von einem erhobenen Zeigefinger sprechen kann oder muss. Unabhängig davon handelt Lolles Reise von der Suche nach dem Glück, das für jeden ein wenig anders gewandet daherkommt. Davon, dass manche Träume ein wenig zurechtgestutzt oder leicht abgewandelt werden müssen, wenn man wirklich glücklich sein möchte. Und vom Verstehen, dass jeder das ist, was Erlebtes aus ihm macht. Von Freundschaft und Verantwortung.

Nicht zwingend tiefsinnig, aber auch nicht vollkommen oberflächlich lässt Safier seine Hauptkuh Lolle die Geschichte erzählen. Locker und leicht lesbar erfährt man von ihren teils klamaukartigen Erlebnissen und Gedanken. In der hypothetischen Reise seiner Kühe findet sich humoriger Lesespaß. Vielleicht gerade weil Safier Rinder, Kater und Hund so menschlich dargestellt, wirkt aber auch die Entwicklung ihrer Charaktere oder die latent enthaltene Botschaft in Muh! überraschend plausibel.

Fazit: 04perlenpunkte.jpg

Allen Menschen recht getan, ist ja bekanntlich eine Kunst, die keiner kann. Deshalb gehe ich davon aus, dass Safiers Muh! nicht alle anspricht. Mit seinem schrägem Wortwitz zeigt Safier darin durchaus ein Talent für spaßige Situationen. Allerdings fehlt manchmal ein wenig Tiefe. Anfangs helfen noch Dialoge und Sticheleien der Herde untereinander gut darüber hinweg. Im Lauf der Geschichte verliert sich der Witz jedoch etwas, auch durch Wiederholungen von Lolles Gedankengängen, was im Mittelteil für die eine oder andere Länge sorgt. Trotz kleinerer Schwächen hält man mit dem Buch jedoch eine amüsante und (größtenteils) kurzweilige Lektüre in Händen, für die ich vier von fünf Punkten vergeben möchte.

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

4. Dezember 2012

50 Cent: playground

Filed under: Jugendbuch,Roman — Ati @ 15:46

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Originaltitel playground
aus dem Amerikanischen übersetzt von Rainer Schmidt
rowohlt POLARIS
ISBN13: 9783862520329
ISBN10: 3862520323
Belletristik
1. Auflage 12/2012
Taschenbuch, 192 Seiten
[D] 13,95 €


Verlagsseite
Autorenseite 

Es gibt eigentlich so gut wie nichts, was ich lesetechnisch nicht zumindest einmal ausprobiere. In diesem Zusammenhang landete der Roman des US-amerikanischen Gangsta-Rappers 50 Cent auf meinem SuB. Dort lag er allerdings nicht lange, denn meine Nichte fragte mich, wie ich das Buch finde. Und eine entsprechende Antwort konnte ich ihr schließlich erst nach der Lektüre geben.

Was erwartet einen in einem Buch, in dem jede Menge 50 Cent in der Hauptfigur stecken soll? Immerhin ist besagter Gangsta-Rapper nicht unbedingt strafunauffällig geblieben und sein Leben war alles andere als unbewegt. Curtis Jackson III, alias 50 Cent, wurde 1975 in Queens geboren. Seinen Vater kennt er nicht, seine Mutter, eine Crackdealerin, wurde ermordet, als er gerade acht war. Fortan lebte er bei seinen Großeltern. Mit zwölf handelte er selbst mit Drogen und verbüßte bis zu seinem 18. Geburtstag bereits mehrere Haftstrafen. Von Jam Master Jay entdeckt, von seinem Label und bald darauf von Columbia Records unter Vertrag genommen, endete im Mai 2000 50 Cents Karriere wieder, bevor dort sein Debütalbum herausgegeben wurde. Jackson war kurz zuvor zunächst niedergestochen und später angeschossen worden und Columbia fürchtete Negativschlagzeilen. Er kehrte in die Welt der Drogen zurück und bekam eine zweite Chance, als Eminem ihn 2002 unter Vertrag nahm. Neben seinen Drogendelikten wurde 50 Cent auch wegen Körperverletzung angeklagt und erhielt 2005 bei seiner Verurteilung zwei Jahre auf Bewährung und die Auflage, sich regelmäßig Antiaggressionstraining und Drogentests zu unterziehen. Das ist die eine Seite. Darüber hinaus ist 50 Cent jedoch für seine Alben und Singles mehrmals ausgezeichnet worden. Mit dem American Music Award, Platin und Gold, dem Bravo Otto, dem Echo, Brit Awards oder auch dem Grammy. Auch die Filme, in/an denen er mitwirkte, etwa der über sein Leben (Get rich oder die tryin‘), wurden kontrovers diskutiert. Vor allem der gerade genannte, in dem genau wie in vielen seiner Lieder Waffengebrauch und damit Gewalt verherrlicht wird. playground ist übrigens nicht das erste Buch, an dem er beteiligt ist. 2005 erschien bei Hannibal Dealer, Rapper, Millionär von 50 Cent und Kris Ex. Und auch ansonsten vermarktet der 37Jährige sich selbst geschickt. Sei es mit Klingeltönen oder Bekleidung, Computerspielen, Heftromanen oder Getränken. 2006 soll er laut Forbes Magazine 32 Millionen Dollar verdient haben.

Alleine nach dem Blick auf seine Biografie war ich geneigt, meiner Nichte zu sagen: Finger weg. Anderseits soll laut Verlagsseite beispielsweise Bette Midler gesagt haben: „Ich verneige mich vor 50 Cent, weil er dieses Buch geschrieben hat.“ Die ist ja nun nicht gerade für Gangsta-Rap und Hardcore-Filme bekannt. Und außerdem verlegt rowohlt POLARIS das Buch. Der 2010 gegründete Verlag will mit jedem seiner Titel Besonderes bieten. Jährlich sollen beispielsweise 12 Titel im Bereich Belletristik herauskommen. playground ist dieses Jahr einer dieser Titel. Es sollen Spannung, Fantasy und Humor dominieren, wie man auf der Homepage sehen kann. Das alles in niveauvoller Form für alle zwischen 16 und 66.

Ich ging anhand der Inhaltsangabe davon aus, dass Fantasy und Humor in playground sicher nicht dominieren würden, womit nur die Spannung blieb. Und die beschränkte sich bei mir anfangs ganz profan auf Dinge wie etwa die Sprache. Gettoslang? Auf so jugendlich getrimmt, dass ältere LeserInnen vielleicht Verständnisprobleme damit haben? Ergeht sich der Roman in einer ausführlichen Beschreibung des Drogenmilieus? Verherrlicht er Waffen? Strotzt er vor Gewaltexzessen? Die Titel der 50 Cent Alben/Singles (etwa The Massacre oder Before I self destruct) stimmten mich diesbezüglich nicht sehr hoffnungsfroh.

Liegt es daran, dass zum Schreiben des Buches Laura Moser herangezogen wurde, die vermutlich nach Gesprächen mit dem Rapper die Finger auf die Tastatur niederprasseln ließ. Sie steht zumindest unter 50 Cent auf dem Titelblatt innen und wird auch etwa bei Amazon als Autorin genannt. Oder daran, dass 50 Cent heute anders denkt als vor einigen Jahren. Jedenfalls wurde keine meiner negativen Befürchtungen bestätigt. Und gleich vorab: Die Altersgruppe stimmt. Mir bleiben zwar noch einige Jahre, bis ich 66 bin, doch bin ich schon wesentlich länger keine 16 mehr. Die Sprache ist verständlich und klar und für die gesamte anvisierte Altersgruppe geeignet. Ob dies an der Übersetzung liegt, weiß ich nicht, da ich das Original nicht gelesen habe. Auf alle Fälle tauchte ich gleich anfangs in die dicht gesponnene, authentische Atmosphäre der Geschichte ein. Ich litt mit den Figuren. Ich ärgerte mich mit ihnen und über sie. Ich entwickelte Verständnis für sie.

Sie könnten übrigens auch gleich nebenan wohnen. Die Geschichte spielt zwar in einem Vorort von New York City in der jüngeren Vergangenheit. Doch beides könnte ohne Probleme getauscht werden.

Obwohl verfickt, Scheiße und ähnliche Worte verwendet werden, gibt es keine Fäkalsprache im eigentlichen Sinn, die gerade angesprochenen Formulierungen tauchen nur relativ begrenzt auf. Obwohl Gewalt vorkommt, wird sie nicht verherrlicht. Schusswaffen beispielweise finden, genau wie Messer oder Schlagringe keinen Platz in der Geschichte. Von Jugendgangs ist nicht wirklich die Rede und auch Drogen werden nur in einem einzigen Satz erwähnt. Einbrüche? Nein. Diebstahl? Ja, man liest davon, aber auch Stehlen bestimmt nicht den Alltag der Hauptfigur.

Stattdessen nimmt man mehr oder weniger teil an einem Dasein in einer relativ harmlosen Vorortgemeinschaft. Ich habe jetzt bewusst das Wort Dasein gewählt, denn himmelblau und wunderschön ist das Leben dort jedoch bei Weitem nicht automatisch. Trostlos trifft es für einige viel eher. Und die Schule ist ein Ort, der Angst machen kann. Nicht weil dort pausenlos Gewaltexzesse beschrieben werden. Selbst Taschengeldabzocke bekommt man nur ganz am Rand mit. Angst macht eher die Denkweise mancher Schüler, die Unterdrückung und Ausgrenzung, das Wegsehen und Tolerieren. Falscher verstandener Respekt und absolute Respektlosigkeit angesichts nicht vorhandener oder extrem verschobener Wertvorstellungen. All das gibt es nicht erst seit wenigen Jahren und nur in den Staaten. Doch über die Jahre hat sich dieses Verhalten stark verschärft und in dieser verschärften Form auch an vielen unserer Schulen Einzug gehalten. Ich kenne mehr als ein Kind, das Angst hat, in die Schule zu gehen. Nicht wegen schlechter Noten oder den Lehrern sondern einzig wegen anderer Schüler. Das Kind einer Bekannten war so unter Druck, dass es sich erst nach einem Selbstmordversuch seinen Eltern anvertraute. Die Hauptfigur aus playground steht jedenfalls am Scheideweg. Geht es für sie einfach trostlos weiter oder verpfuscht sie sich ihr Leben?

Diese Hauptfigur heißt Burton. Den Namen erfährt man erst relativ spät, immerhin ist der 13Jährige allen eher als Butterball, B-Ball, oder auch alte Speckschwarte und Fettschwabbel bekannt. Nach der Trennung seiner Eltern zog er mit seiner Mutter in einen Vorort, musste eine neue Schule besuchen. Sowohl die Trennung als auch der Neuanfang machen Butterball zu schaffen, ist er doch meist sich selbst überlassen. Er nimmt zu, ist übergewichtig, was nicht gerade zu seiner Beliebtheit beiträgt. Alte Freundschaften scheinen nicht zu existieren. Neue sind auch nach zwei Jahren spärlich gesät. Genauer gesagt gibt es da nur Maurice. Doch die beiden verbindet als Außenseiter eher eine Zweckgemeinschaft. Und dann ist da noch Nia, die freundlich zu Butterball ist. Obwohl sein Vater selten Zeit für ihn hat, bedeutet er dem Jungen viel. Und obwohl auch seine Mutter angesichts ihrer Ausbildung und Arbeit so gut wie nichts mit ihm unternehmen kann, fühlt er sich nach außen nur bedingt allein und ist froh, wenn man ihn in Ruhe lässt.

Eines Tages passiert etwas, was alles durcheinanderwirbelt. Damit startet der Roman im Grunde genommen. Weil Butterball denkt, dass Maurice Lügen über ihn verbreitet, will er ihm das Maul stopfen und verprügelt ihn brutal. Die Wirkung dieser Aktion ist fatal und so realistisch dargestellt, dass sie erschüttert. Sein Vater hält ihm mehr oder weniger eine Standpauke. Nicht für das, was er getan hat, sondern dafür, dass er sich hat erwischen lassen. Nia hat Angst vor ihm und blickt gleichzeitig zu ihm auf. Seine Mutter steckt ihn in Zusammenarbeit mit der Schulleitung in eine Gesprächstherapie, damit er nicht von der Schule fliegt. Und ansonsten kennen ihn plötzlich Leute, die ihn vorher bestenfalls nicht beachtet oder verhöhnt haben. Klopfen ihm anerkennend auf die Schulter. Diese Anerkennung will er sich nicht gleich wieder verscherzen und tut deshalb Dinge, hinter denen er nicht wirklich steht.

Auf die Gesprächstherapie hat er absolut keine Lust, sieht aber ein, dass sie nötig ist, um nicht von der Schule verwiesen zu werden. Also geht er widerwillig hin. Und was anfangs unmöglich scheint, vollzieht sich in aller Stille. Er beginnt sich seiner Therapeutin, für die er zunächst allenfalls so etwas wie wohlwollende Verachtung übrig hat, zu öffnen.

50 Cent und Laura Moser lassen Butterball seine Geschichte selbst erzählen. Dies geschieht zum Teil so, dass er LeserInnen an den Sitzungen bei seiner Therapeutin Liz teilnehmen lässt, dann wieder rückblickend den Fokus darauf lenkt, was letztlich überhaupt zu diesen Sitzungen geführt hat. Und zwar in einem Stil, der berührt, nachdenklich macht und wie bereits erwähnt auch erschüttert.

In 34 Kapiteln lernen LeserInnen nach und nach keinen tollwütigen Schläger kennen. Vielmehr offenbart sich ein einsamer Junge, der neben seiner Wut auch seine Ängste unterdrückt, seine Hoffnungen eigentlich schon aufgibt, bevor er sie sich zu sehr ausmalt. Der nicht viel über Gefühle redet, weil er das von zuhause nicht gewohnt ist. Der sich verzweifelt nach Anerkennung sehnt. Erfährt von seinen Träumen und Wünschen. Lernt ihn schlagfertig und sarkastisch kennen. Teils verbittert, teils selbsteinsichtig. Und fatalistisch, denn im Grunde geht er davon aus, ja doch keine Chance zu haben. Butterball fühlt sich wertlos, denkt bestimmte Dinge verdient zu haben. Angesichts des Umgangstones oder auch des Erziehungsstils seines Vaters scheint dies kaum verwunderlich. Die Werte, die ihm seine Mutter vermitteln will, sieht er größtenteils nicht. Obwohl er nicht gänzlich respektlos ist, fehlt es ihm an Respekt. Trotzdem kann der Junge durchaus zwischen Recht und Unrecht entscheiden und beginnt nachzudenken. Wie 50 Cent hat auch Butterball eine kreative Ader, wenngleich er diese nicht durch Musik ausdrückt. Findet er damit einen Ausweg aus seiner Situation?

Fazit: 05perlenpunkte.jpg

Wer in playground so etwas wie eine reine Milieustudie von 50 Cents Jugend und Drogenzeit oder Ähnliches, reißerisch von einem Ghostwriter aufgemotzt, erwartet, sollte die Finger von dem Buch lassen. Curtis Jackson III, alias 50 Cent, weiß durchaus, wie man zum Schläger wird, und hat Erinnerungen aus seiner Jugend (aller Wahrscheinlichkeit nach extrem abgemildert, jedoch nicht geschönt) in die Geschichte einfließen lassen. In der Einleitung meldet sich er selbst zu Wort und erinnert seine Leser an etwas, was er in seinem von Höhen und vielen Tiefen geprägten Leben gelernt hat. Zitat: „Ein Schläger zu sein bringt dich nirgendwohin.“ Nicht jeder hat so viel Glück wie der Gangsta-Rapper und Multimillionär, der mehr als eine Chance erhalten hat. Doch nicht jeder muss vollkommen abstürzen. Wer wissen will, ob es Butterball gelingt nicht nur seinen unsäglichen (auf seine Figur bezogenen) Namen, sondern auch seine Situation zu ändern, sollte dieses Buch lesen. Es gibt immer zwei Seiten im Leben. Die Entscheidung, welche Richtung man einschlägt, trifft man selbst.

Der Roman hat mich mehr als angenehm überrascht und ich kann ihn nicht nur meiner Nichte beruhigt empfehlen. Er ist spannend, trotzdem unaufgeregt leise. Wirkt lebensnah echt, macht nachdenklich und erinnert daran, welchen Einfluss unser Handeln (oder Nichthandeln) auf das Leben anderer hat. Auf einer Punkteskala von eins bis fünf möchte ich playground die volle Punktzahl geben.

Copyright © 2012 by Antje Jürgens (AJ)

9. November 2012

Höra, Daniel: Braune Erde

Filed under: Jugendbuch,Roman — Schlagwörter: , , , , — Ati @ 11:48

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bloomsbury

ISBN 13: 9783833350993

ISBN 10: 3833350997
Jugendbuch (14 – 17 Jahre)
1. Auflage 09/2012
Taschenbuch, 302 Seiten
[D] 8,99 € 

 Verlagsseite

Kennen Sie bloomsbury? Nein? Nun, dann sollten Sie vielleicht einen Blick auf deren Homepage werfen. Im Februar hat Piper den deutschen Zweig Berlin Verlag/Bloomsbury Berlin übernommen, doch bereits davor war er Lesern anspruchsvollerer Jugend- und Kinderliteratur ein Begriff.  

Im September 2012 kam dank bloomsbury der neue Roman von Daniel Höra mit dem Titel Braune Erde in den Verkauf. Damit verlegt bloomsbury bereits den dritten Roman des Autors, der 2009 für sein Debüt Gedisst Lob einheimste, mit seiner Dystopie Das Ende der Welt 2011 nachlegte und mit dem momentan aktuellen Roman Braune Erde erneut mehr als einen Leser erschüttern wird – und zwar nicht nur in der vom Verlag vorgeschlagenen Altersgruppe (14 – 17 Jahre). Wobei genau genommen sein wirklicher Debütroman bereits im Jahr 2001 unter dem Pseudonym Daniel Knüllmann und mit dem Titel Moya! erschien. 

Daniel Höra wurde 1965 in Hannover geboren, seine berufliche Laufbahn liest sich bewegt. Er war Möbelpacker und Altenpfleger, Taxifahrer und TV-Redakteur, bevor er als freier Autor tätig wurde. Dass er einen kritischen Weltblick hat, bewies er bereits mit seinem bloomsbury-Debüt Gedisst. Und so wundert es nicht, dass er nach den fragwürdigen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Zwickauer Trio das Thema Rechsextremismus aufgreift. Viele werden bei dem Thema automatisch Neo-Nazis vor Augen haben, die für ihre Gewaltbereitschaft bekannt sind. Doch die rechte Szene ist viel vielschichtiger. Der weitaus größere Teil von ihnen bleibt eher unauffällig.  

Besagtes Terrortrio und die Pannen der ermittelnden Behörden bleiben in Braune Erde komplett außen vor. Höra beschreibt darin die gewaltbereite rechte Szene, doch es kommen ebenso scheinbar nette, um Gemeinschaft und Freundschaft bemühte, sogenannte völkische Siedler darin vor, die nicht weniger gefährlich sind.  

Das muss Ben lernen. Der Fünfzehnjährige lebt nach dem Unfalltod seiner Eltern bei Verwandten in einem Dorf ohne Perspektiven in Mecklenburg. Immer mehr Anwohner ziehen weg. Vereine gibt es genauso wenig wie ein Lebensmittelgeschäft, eine Postagentur oder irgendetwas anderes, was die Dorfgemeinschaft fördern könnte. Fast jeder ist arbeitslos. Man bleibt für sich und auch Ben ist ein unscheinbarer Junge, der gerne liest und viel alleine ist. Einzig mit einem Künstler Georg pflegt er so etwas wie eine engere Freundschaft. Zumindest bis ein Ehepaar mit ihrer Tochter und ein Witwer mit zwei Söhnen nach Bütenow ziehen. Sie haben ein altes Herrenhaus gekauft, wollen sich als Biobauern selbst versorgen.  

Während die Neuankömmlinge anfangs von den wenigen Dorfbewohnern eher misstrauisch beäugt werden, schließt Ben schnell Freundschaft mit ihnen. Zum einen findet er Freya, die Tochter von Reinhold und Uta nicht nur hübsch, sondern auch nett. Zum anderen liest Reinhold offenbar genauso gern wie er. Der Witwer Hartmut kommt ihm zwar etwas seltsam vor und seine Zwillinge Konrad und Gunther sind auch etwas gewöhnungsbedürftig. Doch während Ben sich bei seinen Verwandten eher unwillkommen und lästig vorkommt, fühlt er sich bei den Neuen im Dorf an- und vor allem ernst genommen.  

Vielleicht hört und sieht er deshalb nur selektiv, was die so von sich geben. Im Herrenhaus ist zwar ständig die Rede von der Globalisierung und ihren Folgen für das deutsche Volk, dem Verfall deutscher Werte und Vergessen deutscher Tugenden, doch Uta kümmert sich mütterlich um Ben. Die Zwillinge Konrad und Gunther, nur unwesentlich älter als Ben, interessieren sich zwar extrem für Waffen, prophezeien das Ende des Staates, einen kommenden Krieg, eine Revolution. Aber sie beschützen ihn auch und sorgen mit ihren Aktionen dafür, dass die zuvor immerwährende Langeweile und Trostlosigkeit durchbrochen wird. Dass die vermeintlich vernünftigen Aussagen im Bezug auf Ausländer, Kriminelle oder auch Politiker sehr einseitig sind, verdrängt Ben großzügig, weil er es sich mit seinen neuen Freunden nicht verscherzen möchte. Immerhin vertreten sie doch auch Werte, die den meisten Leuten, die Ben kennt, völlig abhandengekommen sind. Auch ihm selbst, wenn er ehrlich zu sich ist. Dazu gehört unter anderem Nachbarschaftshilfe. Familie wird groß geschrieben. Die Neuen nehmen nicht nur ihn herzlich auf, sie sorgen auch im Dorf für frischen Wind. Sie kümmern sich um andere, organisieren die Reinigung und Restauration eines Gemeinschaftshauses, gründen eine Tanzgruppe, unterrichten die Frauen in alten Handarbeitstechniken, die Männer im alten Handwerk. 

Dass der frische Wind einen überaus fauligen Geruch in sich trägt, wird Ben erst so richtig bewusst, als er bereits viel zu tief in Dinge verstrickt ist, die sich zunehmend verselbstständigen. Und auch das gesamte Dorf scheint sich gegen den braunen Sog nicht wehren zu können, gründet mit den Herrenhausbewohnern eine Bürgerwehr und macht Jagd auf angebliche polnische Diebe. Georg, der Einzige, der laut seine Kritik an den Herrenhausbewohnern und allen Vorkommnissen äußert, wird ausgegrenzt und mit Lügen kaltgestellt. Alle fühlen sich dank Reinhold und seinen Herrenhausmitbewohnern stärker und sicherer. Das eine oder andere stößt ihnen zwar etwas sauer auf, doch warum etwas unternehmen, immerhin passiert ja nichts Schlimmes.  

Wie sehr sie sich damit irren, muss Ben eines Tages beobachten. Erst dadurch wird er wach. Doch an wen soll er sich jetzt noch wenden? Wer soll ihm glauben, was er beobachtet hat? Er flieht und die, die ihn anfangs herzlich in ihrer Mitte aufnahmen, jagen ihn gnadenlos. 

Das alles erfahren die LeserInnen aus der Sicht von Ben selbst. Er erzählt die Geschichte. In neun, mit passenden Überschriften versehenen Kapiteln, lässt er uns jeweils vorab an seinen Gedanken, seiner Angst teilnehmen, die er während seiner Flucht fühlt. Anschließend lässt er in jeweils mehreren Unterkapiteln eine ausführlichere, chronologische Schilderung der Geschehnisse folgen, die zu eben dieser Flucht führten. Auch die letztendlich daraus resultierenden Nachwehen lässt er nicht außen vor.  

Das langsame Begreifen Bens, aber auch der Dorfbewohner, ist von Höra überaus nachvollziehbar dargestellt. Wer keine Perspektiven zu haben scheint, wünscht sich irgendwo dazuzugehören. Wer in unserer Leistungsgesellschaft keine Bestätigung bekommt – und nicht nur den Arbeitslosen in Bütenow fehlt genau die – sucht sie sich anderswo. Wer gnadenlos im täglichen, persönlichen Hamsterrad steckt, will sich nicht permanent auch noch mit vermeintlichen Pseudoproblemen beschäftigen. Und obwohl man durchaus versteht, wie empfänglich (nicht nur) Ben für die rechte Verführung sein muss, möchte man ihn von dort wegziehen, an die Stirn fassen, ihn angesichts seiner Blindheit anschreien. Dass die Erwachsenen ebenso leichtgläubig und blauäugig reagieren, nicht merken, wie tatsächlich lebenswerte Ansätze pervertiert und sie selbst manipuliert werden, erschüttert. 

Undenkbar, dass man selbst in so eine oder eine vergleichbare Situation kommen könnte! Wirklich? Ist man selbst so stark, dass man den Mund aufmacht, wenn das Umfeld begeistert mitmacht? Kann man den Unterschied zwischen einer an sich guten Grundidee und der pervertierten Fortführung dieser Idee wirklich immer gleich erkennen? Merkt man immer gleich, wenn man manipuliert wird? 

Gleich anfangs nimmt Geschichte gefangen. Und mit jeder Seite, die ich las, wuchs mein Unbehagen, steigerte sich mein Entsetzen. Nicht nur wegen dem, was Höra so nachdrücklich schildert, auch weil Erinnerungen an Erlebnisse wach wurden, die ich selbst an der Seite von ausländischen Freunden erleben musste. Sei es die mit „Ausländer raus“ beschmierte Hauswand, sei es eine Hetzjagd durch die Schorndorfer Innenstadt oder entlang der Neckartalstraße von Bad Cannstatt nach Stuttgart-Münster. Das Einzige, was meine Freunde gemacht hatten, war dort zu wohnen oder entlangzugehen, einen ausländischen Namen zu tragen (der an der Klingel zu lesen war) oder südländisch auszusehen. Einmal wurde eine Scheibe meiner Wohnung eingeworfen, weil ich die Polizei gerufen hatte, nachdem ich zufällig mitbekommen habe, wie einige Rechte eine junge Ausländerin bedrängten. Bei all diesen Gelegenheiten bin ich glimpflich davon gekommen, das unangenehme Gefühl und die Erinnerung an diejenigen, die damals weggesehen haben, habe ich jedoch bis heute nicht vergessen.  

Genau wie das unangenehme Gefühl, das aus dem Wissen resultiert, wer alles ganz im Allgemeinen rechtes Gedankengut für gut oder ganz akzeptabel befindet. Von außen sieht man diesen Leuten das nicht an. Egal, ob es die nette ältere Dame aus der Straße, die freundliche Angestellte der Krankenkasse, der engagierte Lehrer, der hilfsbereite Rechtsanwalt, der coole Automechaniker oder der kumpelhafte Arbeitskollege ist. Das wurde erst bei einigen ausführlicheren Unterhaltungen oder auch einem Blick auf Musik-CDs oder Büchersammlungen klar. Ich habe damals in keinem rechtsradikalen Brennpunkt gelebt. Es war eine Gegend, die durchaus über ein funktionierendes Gemeinwesen und Perspektiven verfügt. Tatsächlich bin ich trotz meiner negativen Erfahrungen weniger gewaltbereiten Skins als braun denkenden Normalos begegnet. Und noch mehr Leuten, die sahen und wegsahen – sei es (verständlicherweise) aus Angst oder weil sie dachten, dass das alles ja nicht so schlimm sein kann und weil ja vielleicht etwas Wahres an den Ansichten dran sein könnte.  

Auf welch fruchtbaren Boden bestimmte Ansichten fallen können, wenn sowohl das funktionierende Gemeinwesen wie auch Zukunftsperspektiven fehlen, zeigt Höra in seinem Roman Braune Erde. Es muss nicht zwangsläufig so laufen, dennoch besteht diese Gefahr sehr real. Nicht nur in Bütenow. Der Autor hebt nicht besserwisserisch den Zeigefinger. Dennoch stößt er LeserInnen mit der Nase darauf, wie wichtig Hinsehen ist. Dass man sich der Thematik stellen muss, wenn man nicht will, dass man selbst oder jemand der einem nahe steht in eine vergleichbare Situation abrutscht. Ob man es dann verhindern kann, steht auf einem anderen Blatt. Doch es ist wichtig, kritisch zu sein gegenüber einem Phänomen, das bedauerlicherweise nicht auf ein einzelnes Land beschränkt ist. Paradoxerweise arbeiten Rechtsradikale auch Nationen übergreifend zusammen, wenn sie gemeinsame Opfer auserkoren haben. Sei es, weil sie einer Minderheit angehören, die sie bekämpfen wollen. Oder weil sie einfach manipulierbar sind und quasi zu Werkzeugen einer perfiden Ideologie umfunktioniert werden können.  

Fazit: Ein empfehlens- und lesenswerter, erschütternder und bedrückender Roman, der am Ende trotz der Thematik einen kleinen Hoffnungsschimmer erkennen lässt und dem ich fünf von fünf Punkten geben möchte.  

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

6. November 2012

Schröder, Rainer M.: Liberty 9 – Sicherheitszone

Filed under: Abenteuer,Belletristik,Dystopie/Endzeit,Jugendbuch — Ati @ 14:55

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Verlag cbj
ISBN13: 9783570154649
ISBN10: 3570154645
Fantasy, Jugendbuch ab 12. Jahre/All Age
1. Auflage 08/2012
Hardcover mit Schutzumschlag, 496 Seiten
[D] 18,99 €

Verlagsseite

Autorenseite 

Die Biografie von Rainer M. Schröder, Verfasser des vor mir liegenden Romans ist bewegt und umfangreich. 1951 in Rostock geboren und Ostberlin aufgewachsen, konnte Schröder mit seiner Familie noch vor dem Mauerbau in den Westen flüchten. Er durchlief eine Operngesangsausbildung, war bei der Luftwaffe und Lokalreporter einer Tageszeitung. Doch damit nicht genug. Bevor er als freier Autor tätig wurde, studierte er Jura und nebenbei noch Theater-, Film und Fernsehwissenschaften und arbeitete als Theaterautor und Verlagslektor. Schröder zog in die USA und nach einer Hobbyfarmer-Episode in die Welt. Nordamerika, Südamerika, Australien, Afrika. Da er in Europa geboren und aufgewachsen ist, fehlen ihm einzig die Antarktis und Asien, um sagen zu können, dass er alle Kontinente der Welt bereist hat. Er betätigte sich als Schatzsucher unter Wasser, arbeitete in einer Goldmine, zog durch Wüsten und Savannen und überstand auch mehr als einen Wintersturm auf den Meeren oder paddelte mit Indios über den Amazonas. Seine Erlebnisse und Erfahrungen hat er in zahlreichen Büchern teils unter Pseudonym (Ashley Carrington) verarbeitet. Schröders Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Er zählt zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern im Bereich Jugendbuch und historischer Roman. 

Spätestens nach einem Blick auf seine Homepage, von der die vorgenannten Informationen stammen, war ich neugierig auf seinen bei cbj erschienenen Roman Liberty 9. Nicht nur weil ich immer auf der Suche nach Büchern bin, die ich getrost lesewilligen Nichten und Neffen oder den Kindern von Bekannten und Freunden empfehlen kann, auch weil mich die Inhaltsangabe auf der Verlagsseite angesprochen hat.  

Entsprechend enthusiastisch entfernte ich die Verkaufsfolie des Buches, öffnete es und begann zu lesen. Nebenbei erwähnt, auch die Gestaltung des Schutzumschlages sprach mich an (ich mag Blautöne und nicht nur der Titel ist in Blau-metallic gedruckt, auch die abgebildeten Augen sind blau, ebenso wie Teile des Hintergrunds, die einen Wald darstellen).  

Die Geschichte wird größtenteils in dritter Person aus der Sicht der Hauptfigur Kendira erzählt, drei Passagen auch aus der eines Aufsehers (im Buch Konventobere genannt). Sie erstreckt sich über einen relativ kurzen Zeitraum von Tagen, allenfalls jedoch wenigen Wochen. Liberty 9 ist nicht nur der Titel des Romans, es ist auch die Bezeichnung des Habitats, in dem sich das Leben der Auserwählten Kendira abspielt. Ihres und das von zweihundert anderen Auserwählten. Daneben gibt es noch etliche Servanten, die ihnen dienen, Konventobere, die sie ausbilden, oder Guardians, die sie gegen die (bösen) Nightraider verteidigen. Bis auf die Nightraider sind alle Libertianer, doch nur die Auserwählten werden jahrelang auf ihren Dienst im Lichttempel vorbereitet. Der befindet sich außerhalb von Liberty 9 und ist nur mittels eines Lichtschiffs erreichbar. Liberty 9 ist eine Sicherheitszone in einer Welt, die der unseren ähnelt und doch anders ist. Naturkatastrophen und Kriege haben dafür gesorgt, dass es nur wenige Habitate gibt, in denen sich das Leben lohnt. Daneben gibt es noch die Dunkelwelt. Einen wenig erstrebenswerten Ort, wenn man den Konventoberen Glauben schenkt. Kontrolle, Disziplin und das Training auf ihre künftige Aufgabe beherrschen den Alltag der Auserwählten.  

Strenge Strafen stehen auf Verstöße gegen die Ordnung. Das Schlimmste, was passieren kann, sind neben einer Hinrichtung sogenannte Cleansings. Die führen in der Regel zu einer völligen Auslöschung des logischen Denkvermögens, nicht selten jedoch auch zum Tod. Die Strafaktionen werden grundsätzlich vor den Augen aller durchgeführt.  

Liberty 9 muss so um das Jahr 2.100 herum spielen. Es wird zwar von einer neuen Zeitrechnung gesprochen, in der Kendira und die anderen Figuren im Jahr Phönix 59 leben. Allerdings erwähnt Dante, einer der Servanten, den etwa 2.100 Jahre zurückliegenden Beginn des Christentums. So viel verändert hat sich dort aber der Alltag gar nicht. Es gibt noch Tablets und Joysticks, Ego-Shooter-Spiele, Trikes und Schnellfeuergewehre oder Flammenwerfer, Lichtspielereien und Sphärenklänge dank Synthesizern. Die Auserwählten sind Internatsgleich untergebracht. Individualität wird nicht unbedingt gefördert. Auch zum Essen und Trinken gibt es – zumindest für Kendira und die anderen Auserwählten – auch Dinge, die man aus dem hier und jetzt kennt. Pancakes mit Sirup etwa, oder Kakao. Auch der Alkohol spielt noch eine (untergeordnete) Rolle, übt er doch den Reiz des Verbotenen auf die Jugendlichen aus und den des Vergessens auf die Konventoberen. Sogar eine Art Hostie gibt es, wenngleich sie in Form eines high machenden Beneficium während der Lichtmesse etwas pervertiert wird.  

Schröder geht mit Liberty 9 eine Idee an, die so neu nicht ist. Auserwählte in einer Zone, die streng abgeschirmt sind. Außenstehende, die ihnen ans Zeug wollen. Die Tatsache, dass ein goldener Käfig eben auch nur ein Käfig ist. Gegenseitige Bespitzelung, Verrat. Strikte Zensur und Bücherverbrennungen. Junge Menschen, die aufbegehren. Abgesehen von reellen Bezügen zu den nach außen abgeriegelten Ländern des früheren Ostblocks oder bestimmten Sekten wurde diese Thematik schon in zahlreichen anderen Romanen verwendet.  

Kendira hat, bevor sie Dante kennenlernt, keine Zweifel an dem System. Zu gut hat die Gehirnwäsche, der sie von klein auf unterzogen war, funktioniert. Dennoch findet sie (und neben ihr auch einige andere) keinen Gefallen an der öffentlichen Hinrichtung von Nightraidern oder an den ebenso öffentlichen Cleansings – egal ob es sich dabei um Servanten, Auserwählte oder Konventobere handelt.  

Logischerweise will keiner Gefahr laufen, ein solches Cleansing als Hauptakteur zu erleben. Ein Grund für eine solche Strafaktion wäre es, den Verstoß eines anderen nicht zu melden. Genau das jedoch tut Kendira nicht, als sie Dante bei etwas eindeutig Verbotenem erwischt. Dante gelingt es, Zweifel am System in Kendira zu wecken. Bereits nach kurzer Zeit ist sie felsenfest davon überzeugt, dass ihre höhere Berufung tödlich für sie endet. Und nicht nur sie geht das Risiko ein, sich Zweifel zu erlauben. Sie zieht auch weitere Auserwählte auf ihre Seite, von denen einer übrigens ebenfalls sehr an ihr interessiert ist und sie irgendwie auch an ihm. Die Ereignisse überschlagen sich und letztlich wagt sie an der Seite von Dante und drei weiteren Auserwählten einen Ausbruchsversuch aus Liberty 9. 

Klingt gut, nicht? Allerdings gibt es den einen oder anderen Punkt, der das Lesevergnügen schmälert; den Spannungsbogen gar eher einer schlaff herunterhängenden Wäscheleine ähneln lässt. Ansonsten wären mir die untypisch häufigen Schreibfehler sicher nicht aufgefallen, die ich im Buch gefunden habe. Von kleineren logischen Denkfehlern ganz zu schweigen. 

Da wären zunächst einmal die Figuren. Die Auserwählten ähneln in meinen Augen trotz ihrer Erhabenheit eher verwöhnten und zickigen Teenies von heute, zeichnet doch der Autor eine recht … sagen wir mal gewöhnliche Figurenvielfalt. Die Unsympathischen unter ihnen sind meist etwas dicklich, weniger erfolgreich oder haben etwa eine feuchte Aussprache. Die sympathischeren Figuren sind dagegen gut aussehend, schlagfertig, erfolgreich. Kendira selbst zeigt sich angesichts ihrer angeblichen Zweifel immer wieder erstaunlich oberflächlich. Die aufkeimende Angst vor ihrem scheinbar unausweichlichen Ende wirkt so wenig glaubwürdig. 

Allein gemeinsam ist jedoch, dass sie samt und sonders recht unscheinbar sind und vor der Beschreibungsfreude des Autors an ihrem Umfeld verblassen. Überaus erschöpfend ergeht Schröder sich nicht ausschließlich in der detailreichen Schilderung ihrer Gewänder, der Einrichtungen und der Umgebung. Neben der stetig wiederkehrenden metergenauen Angabe bestimmter Dinge führt er auch bestimmte Rituale und die dabei vorgetragene Litanei der Sprechchöre oder beispielsweise auch den Ablauf der Trainingseinheiten sehr erschöpfend aus. Und LeserInnen, die sich bis jetzt noch nicht so genau mit Jesus Christus und seinem Tod auskannten, werden nach der Lektüre von Schröders Roman etwas schlauer sein. Warum? Weil die Bibel zum sogenannten Seelengift gehört, das dem Konstrukt der Erhabenen Macht gefährlich werden könnte, sollte es denn Auserwählten oder Servanten in die Hände fallen. Sie steht seltsamerweise übrigens anscheinend auf gleicher Stufe wie etwa der Graf von Monte Christo. Ansonsten trägt allerdings dieser gedankliche Abstecher in die Grundzüge des Christentums eher zur Verwirrung bei, bringt er den Roman doch nicht wirklich weiter. Insgesamt wäre es praktischer gewesen, einzelne Begriffe in einem Anhang kurz zu erklären, da die Erklärung innerhalb der Geschichte einfach zu langatmig ist. 

Manchmal retten gute Dialoge etwas, doch bei Liberty 9 gehen sie leider angesichts aller Beschreibungen vollkommen unter. Was gesagt wird, wirkt stellenweise hölzern. Ebenso das, was gedacht wird. Einzig Nekia, eine der Auserwählten, sticht mit ihrer Wortwahl etwas daraus hervor. Allerdings – und das möchte ich positiv herausstellen – gibt es einen ganz klaren Vorteil. In manchen Büchern wird bei Dialogen auf Fäkalsprache zurückgegriffen, als wäre das heute die einzig sinnvolle und vor allem mögliche Art, sich zu unterhalten. Davon wird man in Liberty 9 jedoch dankenswerterweise verschont.  

Was in meinen Augen unglücklicherweise ebenfalls unterging, war die Weiterführung einer an sich guten Grundidee. Recht klar beschrieben hat Schröder die harten Strafen für Zuwiderhandlungen, die querbeet alle betrafen. Weniger klar wird dargestellt, warum einigen Servanten und später auch Auserwählten Zweifel am System kommen, beziehungsweise wie diese Zweifel sich erhärten. Es wird das eine oder andere erwähnt, aber das war es auch schon. Man erfährt nicht, wie Liberty 9 überhaupt erst entstanden ist. Warum und weshalb werden die Auserwählten in sogenannten Embrolabs herangezogen, in der Lichtburg erzogen und trainiert, von Servanten bedient? Wie werden sie auserwählt? Warum leben sie in einer Sicherheitszone? Es werden zwar Kriege und Naturkatastrophen erwähnt, doch wirklich darauf eingegangen wird nicht. Auch der künftige Dienst der Auserwählten ist Mysterium. Nicht nur für die Servanten und Auserwählten, auch für LeserInnen. Die paar Andeutungen gegen Ende des Buches – teils von einem zweifelnden Konventoberen, der aus seinem bisherigen Tun die Konsequenzen ziehen will, teils von Nightraidern, deren Motivation im Übrigen auch etwas konstruiert scheint – deuten darauf hin, dass der Autor genauso im Dunkeln tappt. Vor allem rechtfertigt keine dieser Andeutungen den Aufwand, mit dem die Auserwählten jahrelang „ausgebildet“ werden.

Laut Pressemappe handelt es um Social Fiction, bei der die Technik zwar noch Lichtjahre von regulärer Science-Fiction entfernt ist, jedoch eine „buchstäblich blendende“ Rolle in dem Roman spielt. Dem kann ich nur zustimmen. Etwas anderem jedoch nicht. Man erfährt aus der Pressemappe auch, dass es sich bei Liberty 9 um einen dramatischen Action-Thriller handelt, der von einem Meister der Spannungsliteratur erzählt wird. Die Grundidee mag spannend sein, tatsächlich wirkt Liberty 9 aber wie ein mühsames Konstrukt auf mich, das Fragen aufwirft aber kaum Antworten findet. Ebenso sollen Liebe und Freundschaft ein zentrales Thema sein, sowohl den Kern als auch das Gewebe bilden, welches die Geschichte zusammenhält und weiterbringt. Das kam so nicht bei mir an, da beides an sich zu wenig ausgeführt wird. Die Liebe und Freundschaft, die im Klappentext erwähnte unwiderstehliche Anziehungskraft – all das scheint lediglich auf dem guten Aussehen Kendiras, Carsons (der interessierte Auserwählte) und Dantes zu fußen.  

Fazit: Irgendwo habe ich gelesen, dass es sich um den Auftakt einer Trilogie handeln soll. Das würde die offenen Fragen erklären, die Andeutungen, die im Sande verlaufen und diese wie vergessene Handlungsfäden wirken lassen. Bedauerlicherweise habe ich jedoch weder in der Pressemappe noch auf der Verlags- oder Autorenseite und schon gar nicht irgendwo im Buch oder auf dem Buchumschlag einen Hinweis gefunden, der bestätigt, dass es sich hier um einen Auftaktroman handelt. Alles in allem möchte ich Liberty 9 nur einen von fünf Punkten geben, da ich den Roman weder sonderlich spannend noch eindrucksvoll, die Charaktere viel zu schwach und die Geschichte insgesamt zu konstruiert empfunden und von einem Autor wie Schröder einfach mehr erwartet habe.

Copyright © 2011 by Antje Jürgens (AJ)

Nachtrag: Wie ich zwischenzeitlich erfahren habe, handelt es sich bei Liberty 9 um keine Trilogie. In der Frühjahrsvorschau 2013 habe ich jedoch den Folgeband gefunden.

1. November 2012

Simons, Moya: Ein Flüstern in der Nacht

Filed under: Belletristik,Historisch,Jugendbuch,Roman — Ati @ 12:59

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Originaltitel: Let me whisper you my story, aus dem Englischen übersetzt von Anne Braun
cbj
ISBN13: 9783570153314
ISBN10: 3570153312
Historisch, Kinder- und Jugendbuch, Altersempfehlung ab 10 Jahre
1. Auflage 10/2012
Hardcover, 300 Seiten
[D] 12,99 €


Verlagsseite
Autorenseite (englisch)          

Es gibt Dinge, die sollte man niemals vergessen, so schrecklich sie auch sind. Nicht weil man sie nicht verarbeiten und loslassen kann, sondern weil man sie einfach nicht vergessen darf. Weil sie wieder und wieder passieren sollen. Das klingt jetzt zugegebenermaßen auf den ersten Blick im Zusammenhang mit dem vor mir liegenden Jugendbuch nicht nur seltsam, sondern geradezu falsch. Allerdings nur, bis man sich vor Augen führt, was genau nicht vergessen werden darf und immer wieder passieren sollte. 

In Ein Flüstern in der Nacht geht es um die Geschichte von Rachel Schwarz. 1932 geboren, wächst die Tochter eines jüdischen Arztes zusammen mit ihrer sechs Jahre älteren Schwester Miri und ihrer Mutter in Leipzig direkt in eine Zeit hinein, die wohl das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte ist. Von der zunehmenden Diskriminierung und Verfolgung, von Deportation und Mord an Unschuldigen, die einfach einem anderen Glauben oder einer Minderheit (wie etwa die Zigeuner) angehörten oder nicht ins Rassebild der Arier passten (neben Juden auch Behinderte und Kranke). Unzählige Filme und Bücher haben sich schon mit der Shoah beschäftigt, fiktiv und/oder reflektiv das damalige Geschehen wiedergebend. Spontan sind mir im Vorfeld Schrei nach Leben, Der Pianist, Schindlers Liste und natürlich Das Tagebuch der Anne Frank, Die Kinder von Blankenese, Die vergessenen Kinder von Strüth oder auch Heimat auf Zeit – Jüdische Kinder in Rosenheim 1946-47 eingefallen. Aus Letzterem ist mir ein Satz aus dem Vorwort von Lawrence Langer im Gedächtnis geblieben. „Sie hatten nicht überlebt, sie existierten einfach länger als die Konzentrationslager.“ 

Wie kann man so ein Thema kindgerecht gestalten? Die Altersfreigabe ab 10 Jahren hat mir im Vorfeld doch einiges Kopfzerbrechen bereitet. Eine meiner Nichten ist in diesem Alter, teilweise noch sehr kindlich vom Denken her. Mit dem Thema 2. Weltkrieg oder gar Holocaust kam sie bislang allenfalls oberflächlich in Berührung.

Moya Simons, bisher eher für lustigere Themen in ihren Kinder- und Jugendbüchern bekannt, wurde 1942 in Australien geboren. Sie beschreibt sich selbst als neugierig (was ich gut finde, denn Neugier bildet, noch dazu in der Regel umsonst, man muss nur immer wieder genau nachfragen) und trotz ihres Alters jung geblieben und mag diese Neugier an Kindern, ihre Art der Ehrlichkeit. Weshalb sie sich auf das Genre Kinder- und Jugendbuch spezialisiert hat. Sie selbst ist keine Jüdin, kam jedoch bereits früh mit Kindern in Berührung, die den Holocaust überlebt und beispielsweise im Zuge einer Adoption nach Australien gekommen sind. Die Erzählungen dieser Kinder (sofern sie Worte dafür fanden), ihr Verhalten, all das hat die Autorin geprägt und mit zum Entstehen von Ein Flüstern in der Nacht beigetragen. Der Mutter ihrer besten Freundin, die im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb, hat sie diesen Roman gewidmet, der so ganz anders ist als das, was sie sonst so schreibt. Aber auch anders als das, was man sonst so liest. 

Denn gleich vorab: Simons hat meine anfängliche Skepsis recht schnell niedergerungen. Ein Flüstern in der Nacht ist für die empfohlene Altersgruppe geeignet, hat mich tief berührt und ein weiteres Mal sehr nachdenklich über die darin enthaltene Grundthematik gemacht. Es geht darin weniger – obwohl natürlich omnipräsent vorhanden – um die entsetzlichen Vorgänge, um die Entmenschlichung und menschenverachtende Brutalität. Simons geht zwar sehr wohl auf die falschen Ideale, die beispielsweise Freddie, ein deutscher Junge, in sich aufgesogen hat, ein. Sie beschreibt auch anschaulich die Angst, die Rachel und ihre Familie befällt, die sukzessive Einschränkung ihres Lebens, die Verachtung, den Abtransport von Rachels Familie. Doch das ist es nicht alleine. 

Rachel erzählt ihre Geschichte selbst. Simons wählt dafür die Erzählweise großer Erzähler. Ein Satz geht fließend in den anderen über, große Zeitsprünge werden vermieden. Kleine Details weben eine dichte und lebensechte Atmosphäre, obwohl die Autorin über erschöpfende Schilderungen hinweggeht. Dies wirkt jedoch nicht flüchtig oder unvollkommen, sondern überaus passend angesichts der avisierten Zielgruppe. Leser/innen begleiten Rachel Jahr für Jahr von der Zeit vor dem Krieg bis hinüber nach Australien, wo sie letztlich einige Jahre nach dem Krieg landet. Einfühlsam baut die Autorin in die über 10 Jahre währende Geschichte ein, was sie von Opfern der damaligen Zeit hörte.  

Rachel selbst bleibt ein Konzentrationslager erspart. Sie kann den längsten Schal der Welt (von ihrer Mutter) und das Tagebuch ihrer Schwester über den Krieg hinweg retten. Anderen Kindern ist so ein Glück nicht vergönnt. Sie haben nichts mehr außer ihren Erinnerungen. Und viele davon werden von den grausamen Erlebnissen überdeckt, die sie durchmachen mussten. Ein Mädchen erfindet Geschichten, weil ihre eigenen Erfahrungen zu verstörend sind. Ein anderer schafft es lange nicht damit aufzuhören, Essen zu horten. Ein Junge will nicht mehr hören, weil er zu viel Schreckliches gehört hat. Und Rachel selbst kann lange Zeit nicht mehr sprechen. Nicht weil sie nichts zu sagen hat, sondern weil ihr Vater ihr im letzten Moment, bevor alle abgeholt wurden, nicht nur zuflüsterte, sie solle sich verstecken. Auch weil er dabei sagte, dass sie mucksmäuschenstill sein muss, keinen Ton von sich geben darf, um nicht entdeckt zu werden. 

Die Autorin lässt Rachel jedoch auch von dem Ehepaar erzählen, das sie schließlich findet und bei sich aufnimmt und versteckt. Oder von dem Soldaten, der Rachel bei der Hausdurchsuchung wissentlich übersieht. Sie berichtet auch von anderen Menschen, die ihren Verstand nicht abgegeben haben. Die Gefahr für das eigene Leben und das ihrer Familien riskierten, indem sie Verfolgten halfen. Sie alle waren nur kleine Inseln in einem tosenden Meer des Wahnsinns. Doch diese Inseln boten einen Platz zum Überleben. Einen Platz für Menschlichkeit. Für Hoffnung. Für das Gute. Für Zivilcourage. Das ist das, was ich eingangs meinte. Das sind die Dinge, die man nie vergessen darf, die sich wieder und wieder wiederholen sollen, egal in welchem Kontext. Dazu braucht es keinen Krieg, keinen Völkermord. Das geht auch auf dem Schulhof, wenn Mitschüler drangsaliert werden. In der Fußgängerzone, wenn man etwas Unrechtes sieht. Einfach überall dort, wo sich vermeintlich Stärkere über Schwächere hermachen.  

Die Geschichte führt schließlich über das Kriegsende hinaus nach England, wo die Kinder aufgepäppelt werden, während das Rote Kreuz überlebende Verwandte oder Adoptionsfamilien sucht. Und sie endet gut für Rachel, obwohl sie und die anderen Kinder Unsägliches erleben und schreckliche Verluste hinnehmen müssen. Trotzdem ist Platz für Hoffnung. Nicht nur, weil sie teilweise ihre Angehörigen wiederfindet, auch weil sie bestimmte Dinge nicht vergisst und weil die Freundschaft mit Freddie den Krieg überlebt.  

Das Kriegsgedicht, mit dem die Autorin Rachels Erzählung ausklingen lässt, soll ihrer Aussage nach der kindlichen Zielgruppe ihres Buches zwar verständlich machen, dass Krieg böse ist und neben Tod und Zerstörung noch viele negative Dinge mit sich bringt. Aber noch viel mehr, dass er einen Feind hat: Den, der nicht mitmacht, der Opfern hilft. Mir fiel spontan das Zitat „Selbst die größte Dunkelheit vermag das Licht einer einzelnen Kerze nicht zu löschen“ dazu ein, wobei ich nicht mehr weiß, wer das einmal in welchem Zusammenhang gesagt hat.  

Im Anschluss an das Gedicht folgt eine Zusammenfassung der zeitlichen Abläufe von 1919 bis zur Anerkennung des Staates Israel durch die Vereinten Nationen 1948, bevor das Buch mit einem Nachwort der Autorin endet.  

Fazit: Ein schwieriges Thema gut und einfühlsam umgesetzt. Ohne die Opfer zu missachten und die damaligen Gräueltaten zu trivialisieren, kann man durchaus ein Buch schreiben, das nicht nur kindgerecht ist, sondern auch hoffnungsvoll endet. Simons hat es mit Ein Flüstern in der Nacht gerade gezeigt. Was die Autorin in ihrem Nachwort über den Holocaust, ihre Geschichte aus Wahrheit oder Fiktion aber auch über die Organisation Courage to Care schreibt, war das Einzige, was ich vorab und sofort als für 10jährige geeignet gehalten hätte. Doch jede sonstige Buchseite hat mich eindeutig eines Besseren belehrt. Ich werde es nochmals und gemeinsam mit meiner Nichte lesen. Nicht nur weil ich das in ihrem Sinn für wichtig halte. Auch weil Ein Flüstern in der Nacht uns Erwachsene an wichtige Werte wie Menschlichkeit erinnert. Dafür möchte ich fünf von fünf Punkten vergeben.

Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

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