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17. Mai 2013

DRAGNIĆ, NATAŠA: IMMER WIEDER DAS MEER

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Immer wieder das Meer von Natasa Dragnic
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt
ISBN-13. 97834210458293
ISBN-10: 3421045828
Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur
Ausgabe: 2. Auflage 04/2013
gebundene Ausgabe, 368 Seiten
Neupreis [D]: 19,99 €

 

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Nataša Dragnić Foto © Mirko Waltermann

Nataša Dragnić
Foto © Mirko Waltermann

Ein Blick auf die Homepage der Autorin verrät: Sie wollte schon immer Schauspielerin, Schriftstellerin oder Lehrerin werden. Wirft man einen zweiten Blick in ihren Lebenslauf, offenbart sich, dass die 1965 in Split/Kroatien geborene Nataša Dragnić ihre Wünsche für die Zukunft vollumfänglich in die Tat umgesetzt hat. Sie hat ein Diplom in Germanistik und Romanistik, spricht fünf Sprachen, arbeitete als Reiseleiterin und absolvierte eine Diplomatenausbildung. Darüber hinaus war sie aber auch als Lehrerin tätig (etwa an Fachschule für Touristik in Zagreb). Seit 1994 lebt sie in Erlangen und arbeitet als freiberufliche Sprach- und Literaturdozentin, Dolmetscherin und Übersetzerin. Zudem schlüpfte sie in verschieden Theaterproduktionen unter anderem in die Rollen der Klytämnestra, Nike oder Caesonia. Und als Autorin ist sie nicht nur dank ihrer Kurzgeschichten, sondern spätestens seit ihrem Debütroman Jeder Tag jede Stunde ein Begriff.

Wer dringend knisternde Spannung sucht, sollte die Finger ebenso wie diejenigen von Immer wieder das Meer lassen, die stets Lesequickies bevorzugen. Die Leichtigkeit, die das Covermotiv suggeriert, findet man im Buch nicht wieder. Mit ihrem zweiten Roman präsentiert die Autorin kein Buch für nebenbei. Dazu passiert in ihrem Roman zwar nichts absolut Spektakuläres; insgesamt jedoch zu viel über zu viele Jahre und das Ganze in einigen Zeitsprüngen, die etwas Konzentration erfordern.

Dragnić rollt dabei die Geschichte quasi vom Ende her auf und stellt ihren LeserInnen eine Familie vor, in der sich drei sehr verschiedene Schwestern in ein und denselben Mann verlieben. Alle drei fangen etwas mit ihm an, eine von ihnen heiratet ihn. Der Roman ist gespickt mit Rückblenden auf das Leben der drei Schwestern. Teils auf das aller, teils getrennt. Neben den eifersuchtsbedingten Querelen bleiben zahlreiche familiäre Schicksalsschläge nicht aus. Krankheit und Alter spielen eine Rolle und machen deutlich, dass es um mehr als problematische partnerschaftliche Beziehungen geht. Die Familie schweißt alle zusammen, egal was geschieht.

Das Buch hat eine sehr schwermütige Grundstimmung, geht es doch in weiten Teilen nicht nur um die Sehnsucht und Suche nach der großen Liebe und darum, dass bestehende Gefühle nicht gelebt werden dürfen oder sukzessive ersticken. Dragnić lässt ihren Figuren nicht nur herbe Enttäuschungen erleben, sondern auch einige Schicksalsschläge einstecken. Verluste sind omnipräsent. Das fällt besonders auf, weil bestimmte Figuren aufgrund der Zeitsprünge und Perspektivwechsel quasi zwei Mal gehen. Das kann bisweilen für Verwirrung sorgen.

Liegt es daran, dass jedem für sich zu vieles widerfährt? Ich weiß es nicht und kann den Finger nicht wirklich darauf legen. Doch durchweg alle Charaktere wirkten in ihrer Darstellung nicht immer authentisch auf mich. Hinzu kommt, dass besonders Allesandro bei mir aufgrund seines Verhaltens nicht mit Sympathie punkten konnte. Sieht man von seiner Begeisterung für die Kunst und ihre Geschichte ab, wirkt er eher leidenschaftslos und zu passiv. Was ich jedoch sehr gelungen fand, war die innere Zerrissenheit der Schwestern. Diese wird durch den Schreibstil der Autorin, der in weiten Teilen von kurzen Sätzen geprägt ist, sehr deutlich. Doch obwohl die Autorin auf gelungene Art ein breites Spektrum an Gefühlen transportiert, birgt der Roman einige Längen, die durch aus Perspektivwechseln und Zeitsprüngen resultierenden Wiederholungen entstehen. Diese Längen wiederum werden teilweise aufgefangen durch die Zeitformen, die die Autorin für ihren Roman gewählt hat. Ein Teil wird in der Gegenwart von der Schwester erzählt, die Allesandro gleich eingangs heiratet, die Rückblenden in der Vergangenheit und aus verschiedenen Perspektiven.

Fazit: 04aPerlenpunkte

Obwohl einiges fast zu geballt wirkt, was den Charakteren in Dragnićs Roman widerfährt, wirkt die Geschichte insgesamt nicht völlig aus der Luft gegriffen. Ein Roman über Familie, Glück, Kompromisse und Liebe, aber auch über Egoismus, Verzweiflung, Wut und Trauer. Leise, unaufgeregt, bewegend, nachdenklich machend. Insgesamt möchte ich vier von fünf Punkten dafür vergeben.

Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)

 

12. April 2013

McCLEEN, GRACE: WO MILCH UND HONIG FLIESSEN

Filed under: Belletristik,Leseempfehlung,Roman — Schlagwörter: , , , — Ati @ 11:13

Wo Milch und Honig fliessen von Grace McCleenOriginaltitel The Land of Decoration
übersetzt von Barbara Heller
Deutsche Verlags-Anstalt
ISBN-13: 9783421045461
ISBN-10: 3421045461
Belletristik
Ausgabe 03/2013
Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 384 Seiten
Neupreis[D]: 19,99 €


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© Foto Tom York

© Foto Tom York

Gestern Abend begann ich ein Buch und konnte es nicht mehr aus der Hand legen, bis ich (viel zu schnell) auf der letzten Seite ankam. Viel Schlaf bekam ich in der vergangenen Nacht also nicht. Zu verdanken habe ich dies dem Debütroman von Grace McCleen, in dem sie eine ebenso wundervolle wie erschreckende Geschichte erzählt.

Die in Wales geborene Autorin lebt heute in London. Ihr Roman Wo Milch und Honig fließen erscheint in über 20 Ländern und wurde mit dem Desmond Eliot Prize ausgezeichnet. Mir hat er so gut gefallen, dass ich hoffe, dass der zweite in Arbeit befindliche Roman bald auf den Markt kommt. McCleen studierte Englische Literatur und bereits ein flüchtiger Blick auf ihre Homepage verrät ihre Vielseitigkeit. Neben dem Schreiben betätigt sie sich auch als Sängerin, Songwriterin und Malerin. Und wie Judith, ihre 10jährige Hauptfigur in Wo Milch und Honig fließen, fertigt sie kleine Figuren an.

Die von Judith leben in einer Welt, die das Mädchen aus Dingen gefertigt hat, die für andere allenfalls Müll sind. Häuser aus Keksschachteln, Wolken aus Watte, das Meer besteht aus einem alten Spiegel. Das Mädchen hat viel Fantasie. Doch trotz dieser Fantasie ist Judiths Welt wenig freudvoll. Durch den Tod ihrer Mutter muss sie nicht nur auf diese verzichten, sondern lebt von klein auf mit dem Schuldgefühl, für eben diesen Tod verantwortlich zu sein. Ihr Vater, in seinem Schmerz gefangen, scheint sie nicht lieben zu können. Viel zu sehr ist er auch mit seinem Dienst für den Glauben verwachsen. Der drohende Weltuntergang lässt ihn zusammen mit Judith und anderen Glaubensgenossen von Haustür zu Haustür ziehen, in der Hoffnung so viele Menschen wie möglich zu retten.

Bereits dabei hatte ich schwer zu schlucken, denn Judith lebt quasi von Geburt an in dem Glauben an das baldige Ende. Erschwerend hinzu kommt, dass ihre Lebensweise sie zur Außenseiterin (nicht nur) in der Schule macht. Permanent drangsaliert und zu häufig sich selbst überlassen, zieht sie sich so oft sie kann in das Land der Zierde zurück. Jene Welt, von ihr selbst erschaffen, in der sie die Kontrolle über alles hat und etwas bewirken kann. Doch bald scheint sie direkt mit Gott kommunizieren zu können und das, was sie in ihrem Land der Zierde erreicht, scheint überaus reale Auswirkungen zu haben.

Gleichermaßen faszinierend wie beklemmend offenbart sich Stück für Stück die Welt, in der Judith und ihr Vater leben. Faszinierend im Bezug auf Judiths Gedankenwelt und ihre Kreativität. Beklemmend, weil nicht nur ihr Alltag erschreckend reale Vorkommnisse beinhaltet, die überall und allzeit gleich in unserer unmittelbaren Umgebung geschehen (können). Emotionen und Schutzmechanismen treten zutage, die nicht immer hilfreich, aber absolut nachvollziehbar sind. Beklemmend auch, weil von allen Erwachsenen, die Judith umgeben, einzig eine Lehrerin willens scheint genauer hinzusehen und zu helfen. Weil Judith aufgrund ihrer Geschichte gar nicht in der Lage ist, einfach auf kindliche Weise Hilfe anzunehmen.

Judith offenbart sich als sehr tiefgründig, stellenweise auch humorvoll, dann wieder leicht ironisch, hilfsbereit und bescheiden, altklug und manchmal philosophisch. Ihre Gedanken sind einerseits sehr erwachsen, da ihr Tagesablauf ihr wenig Zeit lässt, Kind zu sein. Von einem fröhlichen Kind ganz zu schweigen. Andererseits hat McCleen einen sehr gelungenen Übergang zu Judiths naivem, kindlichen Blick geschaffen. Beispielsweise als sie beim Predigen an einer Tür klingeln und eine junge drogensüchtige Frau öffnet. Judith selbst bemerkt die Drogensucht an sich nicht. Aber durch ihre Augen bemerken sie McCleens LeserInnen sehr wohl. Etwa durch die Erwähnung von Blutspuren und Stichstellen zwischen den Zehen. Genauso gekonnt formuliert die Autorin die Repressalien, die Judith und ihr Vater bald tagtäglich erleben. Sie spricht sie an, ohne sie konkret zu erwähnen und doch kann man sich als LeserIn genau vorstellen, was in diesem Moment passiert. Ängste und Nöte spürt man ebenso deutlich wie Hilflosigkeit und Wut. Man leidet (nicht nur) mit Judith mit. Doch bei allem was sie erleben, hebt das junge Mädchen seinen Blick auch auf einfühlsame Weise. Bemerkt die eventuellen Hintergründe für bestimmte Verhaltensweisen anderer. Versucht Verständnis zu empfinden und Wutgedanken zu kontrollieren. In Wo Milch und Honig fließen ist Judiths Welt also nicht einfach nur schematisch schwarz-weiß gezeichnet, nicht willkürlich in gut und böse geteilt. Vielmehr wird sehr deutlich, dass eine Medaille immer zwei Seiten hat.

Der Glauben spielt in diesem Buch eine große Rolle. Wer bis jetzt noch nicht viel über Jehovas Zeugen weiß, wird nach der Lektüre von McCleens Roman mit Sicherheit schlauer sein. Die Autorin baut Bibelzitate ein, die Argumentations-, Sicht- und Lebensweise dieser Glaubensgemeinschaft. Was anfangs fast zu viel wirkt, bildet jedoch eine wichtige und stimmige Grundlage für die eigentliche Geschichte.

Die handelt von Mobbing und Psychoterror. Von Einsamkeit und Hilflosigkeit. Von einem tiefgläubigen Menschen, der seinen Glauben zu verlieren droht. Von täglicher Gewalt und den Verlierern moderner Gesellschaften. Gleichzeitig hält man jedoch auch einen Roman in Händen, der leisen Humor, Ironie, Fantasie und Hoffnung enthält. Der eloquent aber niemals belehrend Dinge anspricht, die wie bereits erwähnt direkt um uns herum geschehen (können). Der von Mut handelt und davon, bestimmte Vorgänge nicht einfach so hinzunehmen. Von eigenständigem Denken und was die Kraft der Gedanken bewirken kann.

Vollbringt tatsächlich Gott Wunder durch Judith? Oder kommen hier nur einige Zufälle zusammen und ihre Gespräche mit Gott entspringen einer Psyche, die unter dem Druck des Erlebten zusammenbricht? Die Interpretation bleibt McCleens LeserInnen letztlich selbst überlassen, denn das Ende der Geschichte hat sie genauso überraschend wie passend gestaltet.

Fazit: 05aperlenpunkte.jpg

Ungewöhnlich, aber empfehlenswert. Ein leicht lesbares, aber keineswegs einfaches Buch. Eine Geschichte, die berührt und überzeugt. Mit authentisch wirkenden Charakteren in einer vielleicht fremd wirkenden aber durchaus echt anmutenden Welt. Eine, die LeserInnen mitfiebern und -fühlen lässt. Eine, die nachdenklich macht. Von einer Autorin, die es versteht, vieles anzusprechen, ohne es explizit zu erwähnen. Ein sehr gelungenes Debüt, dem ich fünf von fünf Punkten geben möchte.

Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)

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