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17. April 2013

GANSS, INGRID: DER SPIELMANN

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Verlag: Dryas
ISBN-13: 9783940855169
ISBN-10: 3940855162
Belletristik, historisch
Ausgabe: 1. Auflage 11/2009
Taschenbuch, 600 Seiten
Neupreis [D]: 14,00 €

Verlagsseite

 

Ingrid Ganss © Privat

Ingrid Ganss
© Privat

Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich Märchen liebe? Die lese ich allerdings meist in Form von Märchensammlungen. Deshalb wäre ich auch beinahe an dem ursprünglich bereits im Jahr 2000 und auch unter dem Titel Die Braut des Spielmanns erschienenen und 2009 neu von DRYAS aufgelegten Debütroman von Ingrid Ganß vorbeigelaufen. Zu unscheinbar und trist erschien mir ehrlich gesagt dessen Aufmachung. Weder die Covergestaltung noch die Dicke des Buches deutete auf das hin, was ich letztlich darin fand. Die 1959 geborene Autorin, Fremdsprachen-korrespondentin und Industriekauffrau schreibt seit frühester Kindheit Geschichten und Märchen. Ihr Debütroman erzählt das Märchen von König Drosselbart der Brüder Grimm auf tiefgründige und nicht durchgehend märchenhafte Weise nach.

Während bei den bekannten Märchenerzählern die Prinzessin anfangs nur wankelmütig, stolz und hämisch-übermütig dargestellt wird, erfährt man durch Ganß, was hinter deren Verhalten steckt. Ihre weibliche Hauptfigur Elisabeth von Messelstein, die behütet und verwöhnt aufgewachsen ist, offenbart sich als gebildete und moderne Fürstentochter. Das geht so weit, dass sie sich weigert, den Heiratsplänen zuzustimmen, die ihr Vater für sie schmiedet. Sie schüttet genau wie ihre Grimm-Vorgängerin Spott und Häme über mögliche Kandidaten aus, um diese abzuschrecken. Und genau wie diese muss sie mit den Folgen leben. Denn ihr Vater schwört angesichts ihrer Aufmüpfigkeit, sie mit dem erstbesten Mann zu verbinden, der um ihre Hand anhält. Bei einer Verfilmung von König Drosselbart mit Ken Duken trug der einen unansehnlichen Zottelbart im Gesicht und lebte augenscheinlich mehr schlecht als recht von seinen Tonwaren. Ganß lässt ihren Spielmann Jakob, besagter Erstbester, gleich von Anfang an gut aussehen. Ein Bruch zu Elisabeths bisherigen Leben ist das an der Seite ihres Mannes auf staubigen Landstraßen, in einer schäbigen Hütte und einer Welt voller Gaukler, Zigeuner und einfachem Volk jedoch allemal. Bald schon droht sie am Kampf ums Überleben zu verzweifeln. Doch als sie erkennt, dass sie die wahren Schönheiten des Lebens in ihrem goldenen Käfig bislang nicht erkannt hat, versucht sie, an Jakobs Seite eine Existenz aufzubauen.

Während die Brüder Grimm sich auf einige Aspekte beschränkten (immerhin haben ihre Märchen selten allzu viele Seiten), kann Ganß wesentlich tiefer gehen und tut dies auch. Sie siedelt ihre Geschichte im von Armut und Not gebeutelten Deutschland Mitte des 17. Jahrhunderts kurz nach dem 30jährigen Krieg an. Die von ihr heraufbeschworenen Orte sind erdacht, wirken jedoch real. Bauern versuchen sich gegen die nach wie vor im Luxus lebenden Adligen bzw. deren stete Forderungen in Form von Steuern und Abgaben aufzulehnen, was tödliche Folgen für sie haben kann. Elisabeth zeigt sich bezüglich ihrer Rolle als Frau emanzipiert. Die gleichermaßen nachdenkliche wie zunehmend sympathische weibliche Hauptfigur steht einem männlichen Part gegenüber, der an der Welt zu verzweifeln droht. Seine Gedanken werden selten explizit ausgesprochen. Doch obwohl die Geschichte größtenteils aus Elisabeths Sicht erzählt wird, kann man als LeserIn Jakobs Überlegungen, seine Zweifel und Hoffnungen allzeit klar nachvollziehen. Er scheint ein recht bewegtes, aufrührerisches Leben geführt zu haben. Während er Elisabeth mehrfach auflaufen und sie ihre Vorurteile und ihr Unwissen auf die harte Tour erkennen lässt, muss er feststellen, dass er selbst nicht von Voreingenommenheit, Intoleranz und Engstirnigkeit frei ist. Wer oder was er wirklich ist, beschäftigt LeserInnen den ganzen Roman hindurch, das Geheimnis wird erst gegen Ende etwas gelüftet.

Empathisch und sorgfältig beschreibt die Autorin die Wandlung, die Elisabeth durchmacht. Das Gefühl der inneren Zerrissenheit, dass das neue Leben (welches durchaus Platz für eigene Wünsche und Träume bietet), im Zusammenhang mit dem damaligen Sinn für Sitte und Anstand und ihrer Erziehung auslöst. Und so modern die junge Frau in gewisser Weise denken mag, so unsicher ist sie bei allem, was die körperliche Seite ihrer Ehe mit Jakob angeht. Wobei man hier eindeutig sagen kann: Ein Glück, dass es Jakob ist und niemand, der sie einfach derb an ihre ehelichen Pflichten erinnert und sich über ihre Bedürfnisse hinwegsetzt. Doch einfach ist das Leben an seiner Seite wie gesagt nicht.

Schlüssig und stringent verwebt Ganß einen bildhaft-detaillierten Erzählfaden mit dem anderen. So entsteht sukzessive eine dichte und stimmige Hintergrundatmosphäre, vor der die komplex herausgearbeiteten Figuren agieren. Doch birgt das Schaffen einer dichten Hintergrundatmosphäre die Gefahr von Längen; Ganß konnte sich ihr denn auch prompt nicht völlig entziehen.

Ein weiterer Schwachpunkt ist, dass die Autorin in dem Versuch, ihre Figuren so authentisch wie möglich darzustellen, eingangs Dialoge durch Verwendung einzelner Begriffe so hochtrabend-gekünstelt und salbungsvoll-gespreizt gestaltet, dass manche vielleicht das Buch verfrüht aus der Hand legen. Doch ist das wirklich ein Schwachpunkt? Die Dialoge mögen aus heutiger Sicht betrachtet zu gestellt wirken. Gleichzeitig zeigt sich durch diese gekünstelte Hofsprache jedoch sehr gut die vermeintliche Überlegenheit des Adels über das einfache Volk. Zumal diejenigen, die sich daran stören, bald feststellen werden, dass die Dialoge lebendiger werden, sobald Elisabeth an Jakobs Seite Messelstein verlässt. Spätestens ab da liest sich der Roman sehr flüssig.

Doch während die Brüder Grimm ihre Figuren glücklich bis an ihr Ende leben ließen, steuert die Geschichte von Jakob und Elisabeth auf ein offenes Ende zu. Es vereint Hoffnung und die harte, reale Existenz auf subtile Weise miteinander. Es passt auch auf die beiden Hauptfiguren und überhaupt sehr gut, weil es aus der Geschichte heraus und in sich die einzig konsequente Lösung ist. Doch spätestens hier unterscheidet sich der Roman von der Märchenvorlage.

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Ein trotz kleinerer Längen lebendig erzählter, mitreißender Mix aus Märchen, Liebesgeschichte und historischem Roman, der sich irgendwie allen Genrezuordnungen zu entziehen scheint. Ein Roman von Schuld und Sühne, Stolz und Vorurteil, Liebe und Vergebung; der zeigt, wie sehr ein erster Eindruck täuschen kann. Und einer, der glücklicherweise eine Fortsetzung gefunden hat. 2010 erschien Der König, den ich nach Der Spielmann mit Sicherheit ebenfalls lesen werde. Für das Debüt von Ingrid Ganß möchte ich vier von fünf Punkten vergeben.

Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)

12. April 2013

WUNDER, WENDY: FLAMINGOS IM SCHNEE

337_wunder_flamingosimschnee.jpgOriginaltitel: The Probability of Miracles
übersetzt von Karin Diemerling
Goldmann Verlag
ISBN-13: 9783442313235
ISBN-10: 3442313236
Belletristik
Ausgabe 03/2013
gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 352 Seiten
Neupreis [D] 17,99 €

Verlagsseite
Autorenseite (englisch)

WendyWunder © Heather Parker Photography

WendyWunder
© Heather Parker Photography

Es kommt selten vor, dass ich zwei Bücher nacheinander lese, die mich in etwa gleich berühren. Noch dazu zwei Debütromane. Doch nach Wo Milch und Honig fließen von Grace McCleen ließ mich auch Wendy Wunders Debütroman Flamingos im Schnee erst los, als ich die letzte Seite gelesen hatte. Und auch hier muss ich sagen: Die kam viel zu schnell. Und nebenbei bemerkt ist auch dieser Roman eins der Bücher, die man nicht so schnell vergisst. Kurz zur Autorin: Wendy Wunder unterrichtet Yoga in Boston, wenn sie nicht gerade schreibt oder Zeit mit ihrem Mann und ihrer zauberhaften Tochter Cadence verbringt. Flamingos im Schnee ist ihr erster Roman, und ja, Wendy Wunder ist tatsächlich ihr richtiger Name. (Quelle Verlagsseite)

Wunders Roman ist eigentlich todtraurig. Wer nah am Wasser gebaut hat, sollte sich vorsichtshalber Taschentücher bereitlegen, obwohl die Autorin gänzlich auf Melodramatik verzichtet und ihre Figuren darüber hinaus trotz der ernsten Thematik nicht in völliger Verzweiflung versinken lässt. Ein Hauch Fantasy verhindert dies ebenfalls, ohne der Geschichte die Glaubwürdigkeit zu nehmen. Eine Geschichte, die im Grunde, abgesehen von dem einen oder anderen Detail, jedem von uns geschehen könnte.

Im Fokus steht die im glitzernden Schaustellermillieu eines Vergnügungsparks aufgewachsene Campbell. Ihr Vater verstarb früh. Mit dem neuen Partner der Mutter kann sie nicht wirklich etwas anfangen. Aber das ist auch nebensächlich, denn tatsächlich deutet gleich zu Beginn des Romans alles darauf hin, dass das Mädchen den Kampf gegen den seit Jahren in ihrem Körper tobenden Krebs verloren hat. Mit dieser Diagnose will sich ihre Mutter nach wie vor nicht abfinden. Es gelingt ihr Cam zu überreden, an einen Ort zu fahren, der angeblich wahre Wunder und womöglich sogar eine Chance auf Heilung bringen kann. Obwohl Cam eigentlich längst aufgegeben hat, fahren sie und ihre jüngere Schwester gemeinsam mit der Mutter los.

Einfühlsam und nachvollziehbar, unpathetisch und bildhaft beschreibt die Autorin die Gefühle, die sowohl die Krankheit als auch dieser letzte Versuch, sich der tückischen Krankheit entgegenzustellen, mit sich bringen.

Die jahrelange Krankheit hat dafür gesorgt, dass Campbell keine wirkliche Jugend hatte. Sie wirkt gleichermaßen erwachsen wie pubertär. Das wird schnell klar, denn Wunder stößt ihre LeserInnen gleich mitten ins Geschehen. Bringt gleich anfangs eine Liste mit Dingen ins Spiel, die Cam und eine ebenfalls todkranke Freundin noch erleben wollen. Die Art und Weise, wie Wunder Cam und ihre Freundin beschreibt, gibt sehr treffend wieder, was ich bei betroffenen Patienten und auch selbst erlebt habe. Selbstironie und verzweifelter Sarkasmus, eine gewisse Kaltblütigkeit und der stete Versuch, sich selbst Hoffnung zu verbieten. Dies wird – im Buch, wie im realen Leben – von verzweifelten Angehörigen und Freunden unterlaufen, die genau diese Hoffnung immer wieder aufs Neue anregen wollen. Ebenfalls sehr stimmig ist die Stärke, die Cam ausstrahlt. Der Versuch andere vor der grausamen Wahrheit zu schützen. Oder das Bedürfnis schreien zu müssen, weil man in Watte gepackt wird. Und dann das blindwütige Um-sich-schlagen im übertragenen Sinn, weil Cam genau weiß, wie sie andere verbal oder durch bestimmte Handlungen verletzen kann. Weil niemand außer ihr das Offensichtliche sehen will. Der Versuch, keine Ängste und Schwächen zuzulassen, weil das den Schutzwall zu sprengen droht, den sie um sich aufgebaut hat und der sie aufrecht hält.

Einerseits ist Cams Darstellung dadurch etwas distanziert, doch im Bezug auf die Krankheit gesehen so in sich stimmig, dass LeserInnen einfach mit ihr fühlen müssen. Genau wie mit ihrer Mutter, die versucht, den Spagat zwischen dem drohenden Verlust ihrer Tochter und dem Alltag zu bewältigen. Oder Cams kleiner Schwester, die stets zu kurz kommt, weil Cams Krankheit im Vordergrund steht.

Doch dies sieht Cam genau genommen erst einige Zeit nach der Ankunft in Promise. Dort durchlebt nicht nur sie eine Wandlung. Plötzlich dreht sich nicht mehr alles nur um sie und ihre Krankheit. Andere Dinge rücken in den Vordergrund. Cam kann sogar den anfangs unmöglichsten Punkt auf ihrer Liste (ihre Entjungferung) abhaken und zwischen ihr und Asher, der in Promise lebt, bahnt sich eine zarte Beziehung an, obwohl Cam ihren teils verletzenden Sarkasmus nicht wirklich ablegt. Sie erlebt Dinge, die es sich zu erleben lohnt. Und während bei ihr ein Umdenken in Richtung Hoffnung einsetzt, vollzieht sich ein unmerklicher Umbruch im Fühlen ihrer Schwester und Mutter. Es werden Dinge ausgesprochen, die sie sich eingangs des Romans vermutlich nie gesagt hätten.

Unerwarteterweise musste ich an mehreren Stellen laut lachen. Etwa als Cam ihrer Schwester ein Einhorn präsentieren will. Cams Sarkasmus hatte teilweise ebenfalls diesen Effekt, andererseits hätte ich das Mädchen stellenweise am liebsten geschüttelt.

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Wunder hat Realität mit märchenhaften Fantasy-Elementen gemischt. Das könnte kitschig und melodramatisch wirken, tut es aber nicht. Vielmehr geht es um eine Heilung der besonderen Art. Um Akzeptanz und Loslassen. Um inneren Frieden. Um Zusammenhalt und Perspektivwechsel. Um Hoffnung und Ehrlichkeit. Flamingos im Schnee ist ein berührendes Debüt, welches wie Wo Milch und Honig fließen die volle Punktzahl verdient. Ein lesens- und empfehlenswerter Roman für jüngere und ältere LeserInnen.

Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)

McCLEEN, GRACE: WO MILCH UND HONIG FLIESSEN

Filed under: Belletristik,Leseempfehlung,Roman — Schlagwörter: , , , — Ati @ 11:13

Wo Milch und Honig fliessen von Grace McCleenOriginaltitel The Land of Decoration
übersetzt von Barbara Heller
Deutsche Verlags-Anstalt
ISBN-13: 9783421045461
ISBN-10: 3421045461
Belletristik
Ausgabe 03/2013
Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 384 Seiten
Neupreis[D]: 19,99 €


Verlagsseite

Autorenseite englisch 

© Foto Tom York

© Foto Tom York

Gestern Abend begann ich ein Buch und konnte es nicht mehr aus der Hand legen, bis ich (viel zu schnell) auf der letzten Seite ankam. Viel Schlaf bekam ich in der vergangenen Nacht also nicht. Zu verdanken habe ich dies dem Debütroman von Grace McCleen, in dem sie eine ebenso wundervolle wie erschreckende Geschichte erzählt.

Die in Wales geborene Autorin lebt heute in London. Ihr Roman Wo Milch und Honig fließen erscheint in über 20 Ländern und wurde mit dem Desmond Eliot Prize ausgezeichnet. Mir hat er so gut gefallen, dass ich hoffe, dass der zweite in Arbeit befindliche Roman bald auf den Markt kommt. McCleen studierte Englische Literatur und bereits ein flüchtiger Blick auf ihre Homepage verrät ihre Vielseitigkeit. Neben dem Schreiben betätigt sie sich auch als Sängerin, Songwriterin und Malerin. Und wie Judith, ihre 10jährige Hauptfigur in Wo Milch und Honig fließen, fertigt sie kleine Figuren an.

Die von Judith leben in einer Welt, die das Mädchen aus Dingen gefertigt hat, die für andere allenfalls Müll sind. Häuser aus Keksschachteln, Wolken aus Watte, das Meer besteht aus einem alten Spiegel. Das Mädchen hat viel Fantasie. Doch trotz dieser Fantasie ist Judiths Welt wenig freudvoll. Durch den Tod ihrer Mutter muss sie nicht nur auf diese verzichten, sondern lebt von klein auf mit dem Schuldgefühl, für eben diesen Tod verantwortlich zu sein. Ihr Vater, in seinem Schmerz gefangen, scheint sie nicht lieben zu können. Viel zu sehr ist er auch mit seinem Dienst für den Glauben verwachsen. Der drohende Weltuntergang lässt ihn zusammen mit Judith und anderen Glaubensgenossen von Haustür zu Haustür ziehen, in der Hoffnung so viele Menschen wie möglich zu retten.

Bereits dabei hatte ich schwer zu schlucken, denn Judith lebt quasi von Geburt an in dem Glauben an das baldige Ende. Erschwerend hinzu kommt, dass ihre Lebensweise sie zur Außenseiterin (nicht nur) in der Schule macht. Permanent drangsaliert und zu häufig sich selbst überlassen, zieht sie sich so oft sie kann in das Land der Zierde zurück. Jene Welt, von ihr selbst erschaffen, in der sie die Kontrolle über alles hat und etwas bewirken kann. Doch bald scheint sie direkt mit Gott kommunizieren zu können und das, was sie in ihrem Land der Zierde erreicht, scheint überaus reale Auswirkungen zu haben.

Gleichermaßen faszinierend wie beklemmend offenbart sich Stück für Stück die Welt, in der Judith und ihr Vater leben. Faszinierend im Bezug auf Judiths Gedankenwelt und ihre Kreativität. Beklemmend, weil nicht nur ihr Alltag erschreckend reale Vorkommnisse beinhaltet, die überall und allzeit gleich in unserer unmittelbaren Umgebung geschehen (können). Emotionen und Schutzmechanismen treten zutage, die nicht immer hilfreich, aber absolut nachvollziehbar sind. Beklemmend auch, weil von allen Erwachsenen, die Judith umgeben, einzig eine Lehrerin willens scheint genauer hinzusehen und zu helfen. Weil Judith aufgrund ihrer Geschichte gar nicht in der Lage ist, einfach auf kindliche Weise Hilfe anzunehmen.

Judith offenbart sich als sehr tiefgründig, stellenweise auch humorvoll, dann wieder leicht ironisch, hilfsbereit und bescheiden, altklug und manchmal philosophisch. Ihre Gedanken sind einerseits sehr erwachsen, da ihr Tagesablauf ihr wenig Zeit lässt, Kind zu sein. Von einem fröhlichen Kind ganz zu schweigen. Andererseits hat McCleen einen sehr gelungenen Übergang zu Judiths naivem, kindlichen Blick geschaffen. Beispielsweise als sie beim Predigen an einer Tür klingeln und eine junge drogensüchtige Frau öffnet. Judith selbst bemerkt die Drogensucht an sich nicht. Aber durch ihre Augen bemerken sie McCleens LeserInnen sehr wohl. Etwa durch die Erwähnung von Blutspuren und Stichstellen zwischen den Zehen. Genauso gekonnt formuliert die Autorin die Repressalien, die Judith und ihr Vater bald tagtäglich erleben. Sie spricht sie an, ohne sie konkret zu erwähnen und doch kann man sich als LeserIn genau vorstellen, was in diesem Moment passiert. Ängste und Nöte spürt man ebenso deutlich wie Hilflosigkeit und Wut. Man leidet (nicht nur) mit Judith mit. Doch bei allem was sie erleben, hebt das junge Mädchen seinen Blick auch auf einfühlsame Weise. Bemerkt die eventuellen Hintergründe für bestimmte Verhaltensweisen anderer. Versucht Verständnis zu empfinden und Wutgedanken zu kontrollieren. In Wo Milch und Honig fließen ist Judiths Welt also nicht einfach nur schematisch schwarz-weiß gezeichnet, nicht willkürlich in gut und böse geteilt. Vielmehr wird sehr deutlich, dass eine Medaille immer zwei Seiten hat.

Der Glauben spielt in diesem Buch eine große Rolle. Wer bis jetzt noch nicht viel über Jehovas Zeugen weiß, wird nach der Lektüre von McCleens Roman mit Sicherheit schlauer sein. Die Autorin baut Bibelzitate ein, die Argumentations-, Sicht- und Lebensweise dieser Glaubensgemeinschaft. Was anfangs fast zu viel wirkt, bildet jedoch eine wichtige und stimmige Grundlage für die eigentliche Geschichte.

Die handelt von Mobbing und Psychoterror. Von Einsamkeit und Hilflosigkeit. Von einem tiefgläubigen Menschen, der seinen Glauben zu verlieren droht. Von täglicher Gewalt und den Verlierern moderner Gesellschaften. Gleichzeitig hält man jedoch auch einen Roman in Händen, der leisen Humor, Ironie, Fantasie und Hoffnung enthält. Der eloquent aber niemals belehrend Dinge anspricht, die wie bereits erwähnt direkt um uns herum geschehen (können). Der von Mut handelt und davon, bestimmte Vorgänge nicht einfach so hinzunehmen. Von eigenständigem Denken und was die Kraft der Gedanken bewirken kann.

Vollbringt tatsächlich Gott Wunder durch Judith? Oder kommen hier nur einige Zufälle zusammen und ihre Gespräche mit Gott entspringen einer Psyche, die unter dem Druck des Erlebten zusammenbricht? Die Interpretation bleibt McCleens LeserInnen letztlich selbst überlassen, denn das Ende der Geschichte hat sie genauso überraschend wie passend gestaltet.

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Ungewöhnlich, aber empfehlenswert. Ein leicht lesbares, aber keineswegs einfaches Buch. Eine Geschichte, die berührt und überzeugt. Mit authentisch wirkenden Charakteren in einer vielleicht fremd wirkenden aber durchaus echt anmutenden Welt. Eine, die LeserInnen mitfiebern und -fühlen lässt. Eine, die nachdenklich macht. Von einer Autorin, die es versteht, vieles anzusprechen, ohne es explizit zu erwähnen. Ein sehr gelungenes Debüt, dem ich fünf von fünf Punkten geben möchte.

Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)

11. April 2013

Bleif, Martin: Krebs – Die unsterbliche Krankheit

KC_Bleif_Krebs_U1+R_Korr.inddISBN-13: 9783608945942
Klett-Cotta 2013
Leseprobe

Inhalt laut Verlagsseite

Krebs ist kein undurchschaubares, dunkles Mysterium

Erstmals verbindet einer der führenden Krebsmediziner sachliche Informationen über Krebs mit seinen sehr persönlichen, berührenden Schilderungen: Seine Frau Imogen erkrankte wenige ­Monate nach der Geburt ihrer Tochter an Brustkrebs.

Buchbesprechung folgt

27. März 2013

BODENSTEIN, KATHARINA: NATURKOSMETIK AUS MEINEM GARTEN

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Jan Thorbecke Verlag der Schwabenverlag AG
ISBN-13: 9783799507431
ISBN-10: 3799507434
Sachbuch, Wellness
02/2012
Hardcover, 120 Seiten
Neupreis [D] 16,90 €

Verlagsseite

Naturkosmetik kann man kaufen oder selbermachen. Anregungen und Bücher zu diesem Thema gibt es einige. Nicht alle darin vorgestellten Rezepte enthalten allerdings gänzlich natürliche Zutaten. Letzteres ist etwa in Cosima Bellersen-Quirinis Naturkosmetik einfach selbst gemacht so, wobei das nicht zwangsläufig heißt, dass das Buch oder die darin enthaltenen Rezeptvorschläge rundweg schlecht sind. Doch wer sich mit gänzlich natürlichen Produkten reinigen und pflegen möchte, ist mit Katharina Bodensteins Naturkosmetik aus meinem Garten besser bedient.

Bodenstein verwendet Obst und Gemüse, Blüten, Blätter, Kräuter und Früchte aus Natur und Garten nicht nur dafür, ihren Gaumen zu verwöhnen. Sie zaubert daraus Kosmetik (fast) zum Nulltarif, wie sie eingangs in ihrem Vorwort ausführt. Wohlfühlkosmetik, aus allem, was essbar und gut verträglich ist,, bietet nicht nur Spaß beim Zusammenrühren, sondern auch beim Verwenden. Immerhin kann nicht nur die Maske aus Erdbeerpüree nebenbei auch gegessen werden.

Bevor es an die teils leckeren, bunten und natürlichen Rezeptideen geht, geht die Autorin jeweils auf Hauttypen und Inhaltsstoffe der Pflanzen ein. Ebenso spricht sie Anwendungsmöglichkeiten wie etwa Masken und Körperöle an, erwähnt Basisrezepte und lässt auch Informationen zum Sammeln und Konservieren von Kräutern und Co. nicht außen vor. Alles Wesentliche wird kurz und knapp auf anschauliche Art erläutert.

Bereits ab Seite 19 geht es dann ans Eingemachte oder viel mehr Frischgemachte. Bodenstein startet mit ihren 123 Rezeptideen für Haare, Haut, Gesicht und Körper. Haushaltsübliche Utensilien reichen beim Nachmachen vollkommen. Sieht man von Avocados ab, die hierzulande zwar überall gut erhältlich sind aber allenfalls unter besonderen Bedingungen wachsen, konzentriert sich Bodenstein auf Ingredienzen, die man regional problemlos je nach Jahreszeit frisch aus Natur und Garten ernten oder kaufen kann. Vieles erhält man auch in getrockneter Form.

Die daraus resultierenden Rezepte sind nach den vier Jahreszeiten geordnet. Praktisch finde ich in diesem Zusammenhang die Farbbalken an der Bindungsseite des Buches. Diese sind der Schriftfarbe im Inhaltsverzeichnis (ein Grünton für den Frühling, Rot für den Sommer, Orange für den Herbst und ein Lilaton für den Winter) angepasst und erleichtern das Nachschlagen. Neben den Rezepten selbst finden sich in diesem Buchteil auch Kurzbeschreibungen der verwendeten Pflanzen. Zahlreiche Farbfotos von Jutta Schneider lockern alles auf.

Ebenfalls sehr praktisch finde ich das ab Seite 115 folgende Verzeichnis der Anwendungen und Wirkungen. Auch hier ist der Grundbestandteil des Rezepts in der Farbe gedruckt, die die jahreszeitliche Zuordnung und das Nachschlagen im Buch erleichtert. Ein paar Bezugsquellen runden das Ganze ab.

Wer jetzt denkt, dass mit der Eigenproduktion ein immenser Zeitaufwand verbunden ist, wird schnell eines besseren bedient. Deshalb macht es auch nichts aus, dass die fertig angerührten Mischungen schnell aufgebraucht werden sollten.

Pflegen, Verschönern und Verwöhnen – keine Erfindungen der Neuzeit, auch wenn in den letzten Jahrzehnten eine unüberschaubare Masse an kosmetischen Produkten auf den Markt geworfen wurde. Zutatenlisten lesen sich allerdings oft wie ein Chemiebaukasten und nicht von ungefähr reagieren viele empfindlich bis allergisch auf eine zunehmende Anzahl an diesen Erzeugnissen.

Zugegeben: Auch auf Naturkosmetik kann man reagieren. Schließlich plagen immer mehr Menschen Nahrungsmittelunverträglichkeiten bis hin zu ausgewachsenen Lebensmittelallergien. Da jedoch Bodensteins Zutatenlisten in den wenigsten Fällen drei Zutaten übersteigen, kann man eventuelle Auslöser in Rezepten sehr schnell ausfindig machen, sofern man sie nicht sowieso bereits kennt und dementsprechend sowieso die Finger davon lassen sollte. Letzteres fällt aber sehr leicht, da sie sich nicht hinter unverständlichen chemischen Bezeichnungen verstecken.

An dieser Stelle möchte ich der Autorin noch gleich ein Danke schicken. Ihre Lorbeerblatt-Spülung sorgt seit einigen Tagen für einen zarten roten Schimmer auf meinem Haar, der nicht nur bei mir ausnehmend gut ankommt. Und auch Bodensteins Anleitungen der Apfel-Sahne- und Hefemaske hat meiner kürzlich zu extremer Trockenheit neigenden Haut auf die Sprünge geholfen.

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Für alle, die Wert auf das Wissen legen, womit sie sich reinigen und pflegen. Zutaten und Utensilien sind leicht zu beschaffen. Die Rezepte sind samt und sonders leicht und vor allem sehr schnell nachzuarbeiten und bieten Inspirationen für eigene Variationen. Bodensteins Naturkosmetik aus meinem Garten belebt altes Wissen neu und bietet so eine wunderbare Möglichkeit auch bei Kosmetik und Wellness nicht auf Nachhaltigkeit zu verzichten. Denn allein schon das Einsparen von unnötigen Verpackungen spricht unabhängig vom völligen Verzicht auf chemische Zusätze und künstliche Konservierungsmittel für sich. Ein Buch, das die volle Punktzahl verdient und auch von mir bekommt.

Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)

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